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die Briefeschreibenden
Ein Beitrag von laura.fahnenbruck im Forum OBF
29.08.2023 04:55

Wer sind Hilde und Roland Nordhoff? Schreiben Sie mit!

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laura.fahnenbruck

Di., 29.08.2023 - 16:57

Veröffentlicht im Trug&Schein-Projekt: Ein Briefwechsel, www.trugundschein.org, am 31. Oktober 2015 [T&S-Benutzerbeitrag: BB151031]

Selbstkonstruktion und -inszenierung im Nationalsozialismus von Annina Forster, Wien

In folgendem Aufsatz möchte ich die Geschichte von Roland und Hilde aus einem physischen Blickpunkt heraus betrachten: Dem der Sexualität. Ich werde mich mit der sexuellen Komponente ihrer Beziehung beschäftigen und versuchen festzustellen in wie weit diese aus den Briefen herauszulesen ist. Hierzu habe ich mich mit der Geschichte des Briefes auseinandergesetzt, wobei mein Hauptaugenmerk auf persönlichen Briefen und Liebesbriefen lag; habe versucht die Geschichte der Sexualität und vor allem den gesellschaftlichen Umgang mit Intimität in dieser Zeit nachzuvollziehen. Des Weiteren war es mein Ziel herauszufinden welche Rolle die Sexualität für Hilde und Roland spielt und inwiefern sie ihr in ihren Briefen Ausdruck verleihen.

Das Trug und Schein Projekt befasst sich intensiv mit dem Briefwechsel eines Paares im Zweiten Weltkrieg. Bei den Briefeschreibern handelt es sich um die junge, aus einer Arbeiter-Familie stammende, Hilde Laube und den bürgerlichen Volksschullehrer Roland Nordhoff. Den ersten Brief an Roland schreibt Hilde im Sommer 1938 und setzt damit eine umfangreiche Briefkonversation in Gang, die sich bis in den Frühling 1946 durchzieht. Zu Beginn des Austausches ist Hilde 18 Jahre alt, wohnt mit ihren Eltern in einem kleinen Ort in Deutschland und arbeitet in einer Trikotagen Fabrik. Roland hat zuvor im selben Ort gewohnt und hat erst kurz vor Beginn des Briefwechsels, aufgrund seiner neuen Anstellung, den Wohnort gewechselt. Die Beiden trafen sich im Kirchenchor und Hilde beschloss Kontakt zu dem älteren Lehrer aufzunehmen. Über diesen - zur damaligen Zeit bereits recht emanzipierten - Akt verblüfft, antwortet ihr Roland wenig später auf ihre ersten Zeilen und mit der Zeit entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihm und Hilde. Zunächst nimmt Roland eine beinahe autoritäre Position in Hildes Leben ein und lehrt sie, ganz im Sinne seines Berufsstandes, in der richtigen Ausdrucksweise in ihren Briefen. Schon bald wird jedoch klar, dass die Beiden mehr füreinander empfinden als Freundschaft und gelegentliche Treffen folgen. Sie bauen eine Beziehung zueinander und miteinander auf und kommen sich, auch körperlich, näher.

Die Geschichte des Briefes ist laut dem Literaturwissenschaftler Reinhard Nickisch parallel zu der Geschichte der Schriftkultur im Morgen- und Abendland zu setzen. Briefe wurden und werden aus einem essenziellen Grund verfasst: Sich jemanden mitzuteilen. Nickisch meint, dass dies in erster Linie Personen gegenüber geschieht, die sich in einer räumlichen Distanz zum Briefschreiber befinden.[1] Dem muss ich widersprechen, denn ich denke Briefe können auch für Personen relevant sein, die sich im selben Raum befinden, jedoch durch gewisse Umstände nicht verbal miteinander kommunizieren können (z.B. das „Briefchenschreiben“ in einem Klassenzimmer). In jedem Fall dient der Brief als ein Ersatz-Medium für die verbale Kommunikation.[2] So konnten auch Roland und Hilde zunächst nur über Briefe miteinander kommunizieren. Roland war aus dem gemeinsamen Heimatort weggezogen und um den Kontakt aufrecht zu erhalten, entwickelte sich eine rege Briefkonversation zwischen den Beiden, die sich auch über die Kriegsjahre und Rolands Einsatz im 2. Weltkrieg hinwegsetzt. In ihren Briefen können sie sich einander mitteilen, sich austauschen und Erlebnisse vielleicht gemeinsam verarbeiten.

Die Mittteilungsträger, die für eine Briefkommunikation essentiell sind (z.B. Papier, Pergament, Papyrus, Tontafeln aber auch Postboten, Transportvehikel und äußere Faktoren wie Wirtschaft und Regierung), beeinflussten auch die Entwicklung und Verbreitung der Briefkultur. Ebenfalls maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt waren andere profane Bedingungen wie der Transfer der Briefe.[3] Speziell für unseren Briefwechsel sind solche Faktoren relevant, denn er findet seine Szenerie in den Turbolenzen der nationalsozialistischen (Kriegs-) Zeit. Sowohl Hilde, als auch Roland sind von diesen Faktoren durch beispielsweise verspätete Briefe, betroffen. So beklagt sich Hilde am 29. Dezember 1938, dass Roland sein Weihnachtspaket noch nicht erhalten hat. (390104-2-1)

Erst ab dem 18. Jahrhundert kann man ein Verständnis des Briefes als ein Medium der „frei formulierten schriftlichen Bekundung eines individuellen Subjekts“ [4] nachweisen. Dieses und das 19. Jahrhundert werden demzufolge als die „Jahrhunderte des Briefes“ in Deutschland bezeichnet. Im Jahr 1751 gelang dem Leipziger Fabeldichter Christian Fürchtegott Gellert eine umfassende Briefstil-Reform.[5] Diese Reform ermöglichte es schließlich auch dem Liebesbrief, „als Ausdruck persönlicher erotischer Regungen und Wünsche“[6], Fuß zu fassen.

Die Geschichtsschreibung des proletarischen Sexualverhaltens könnte durch die einseitige Sicht zeitgenössischer Beobachter, geprägt durch eine bürgerliche Sexual- und Familienideologie, verfälscht worden sein, so der Historiker Franz X. Eder. Diese Quellen zeichnen ein Bild eines unbeherrschten Sexualtriebes in der Arbeitergesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zurückzuführen wäre dies auf die industriellen Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnisse. Auch Sigmund Freud versuchte sich in dieser Zeit daran, die sexuelle Freizügigkeit eines proletarischen und eines bürgerlichen Mädchens in Vergleich zu setzen, und lieferte, beeinflusst durch seine subjektive Bürgerlichkeit, eine der bekanntesten Fehleinschätzung der Sexualität dieser Zeit.[7]

Die moderne Geschichtswissenschaft konnte dieses verzerrte Bild des Sexuallebens der Arbeiterschicht jedoch mittlerweile, durch Zuhilfenahme von zeitgenössischen Sexualumfragen, Arbeitermemoiren und –autobiographien, als auch lebensgeschichtlichen Interviews widerlegen.[8] Diverse Studien konnten des Weiteren herausfinden, dass nicht nur die soziale Hierarchie die Voraussetzung für ein proletarisches Sexualleben war, sondern auch „Faktoren wie Bildung, Konfession, soziale Herkunft, ländliche Prägung, materielle Bedingungen, Formen der Arbeitsorganisation und die jeweilige Chance zur Familien- und Haushaltsbildung.“[9]

Die Erforschung der sexuellen Praktik dieser Zeit ist bisher eher stiefmütterlich behandelt worden, wenngleich die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung sich bereits mit der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursivierung und politischen Instrumentalisierung auseinandergesetzt hat. Hierfür wurden zum größten Teil autobiographische Texte aus dem Arbeitermilieu untersucht, andere soziale Klassen wurden diesbezüglich bisweilen kaum unter die Lupe genommen. [10] Eder meint jedoch, dass diese Textanalysen ohnehin nur beschränkte Ergebnisse liefern können, insofern als sexuelle Erfahrungen und Empfindungen „entweder die große Leerstelle der Texte [darstellen] oder [sie] kommen eher am Rande und in wenig explizierter und reflexiver Form vor.“[11]

Frauen die in derselben Geburtskohorte der Jahrhundertwende geboren sind, berichten über einen Wandel im sexuellen Handeln und Erleben in dieser Zeit. Sie berichteten häufig, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend nie mit dem Thema der Sexualität in Kontakt gekommen waren. Auch die Nacktheit von Eltern oder Geschwistern war ein Tabu-Bruch. „Doktor Spiele“ oder Masturbation kamen kaum vor und das erste Eintreten der Regelblutung kam für die meisten völlig unerwartet.[12] Unter diesen Umständen entstanden phantasievolle Vorstellungen über die Fortpflanzung. Man glaubte beispielsweise, dass eine Schwangerschaft durch Küssen, auf dem Schoß sitzen oder Beatmung hervorgerufen wurde.[13]

In den 20er Jahren brachte die „Sexualreform“ einen Einschnitt in diese alt eingesessenen Muster und die Menschen näher in Richtung sexuelle Aufklärung. Schriften wie „Die vollkommene Ehe“ von Theodor van de Veldes, ermöglichte es Schülern sich selbstständig Wissen über sexuelle Themen anzueignen und dieses weiterzugeben. Auch Ehepaare nutzten solche Werke um die Erotisierung ihres Sexuallebens oder die Familienplanung zu unterstützen.[14] 1930 gab es das Buch bereits in 30. Auflage, wurde schließlich jedoch von der Kirche und dem Hitler-Regime auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt, was das Buch noch begehrenswerter machte. Van de Veldes Ziel war es vorrangig Abwechslung in die sexuellen Praktiken von Eheleuten zu bringen. So sollte den Mann ein abwechslungsreicheres Schäferstündchen im Ehebett davon abhalten den sexuellen Partner zu wechseln, und somit Treue und Liebe des Gatten unterstützen.[15] Im Vordergrund stand also eher die sexuelle Erfüllung des männlichen Geschlechtes.

Die zuvor indifferent wahrgenommene Wandlung des Körpers in der Pubertät, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend als positiv assoziiert. Auch die Sexualmoral veränderte sich und die Zahl der vorehelichen Sexualkontakte und Koitus-Partner häuften sich.[16] Man kann jedoch annehmen, dass die Akzeptanz des Wandels zu einer freieren und vielleicht auch lustvolleren bzw. lustorientierten Sexualität hin schleppend verlief. So sah Hilde das Thema Sexualität noch aus einem konservativeren Blickwinkel. Im September 1938 beschwert sie sich beispielsweise bei Roland darüber, dass eine ihrer Freundinnen leichtsinnig ihre Jungfräulichkeit an einen jungen SS-Offizier verschenkt hat, der sie schließlich verließ. Der Offizier begründete die Trennung unter anderem mit dem Umstand, dass er ihr nicht vertrauen könne. Hilde zweifelt die Ernsthaftigkeit der Romanze an, da ihre Freundin weiterhin jeden Sonntag tanzen ging. Sie schreibt:

"Ein Verzicht aus Vernunft ist zwar bitter, doch es zerbricht kein Herz daran. Aber ich finde es unverzeihlich, wenn junge Mädels ohne rechten Verstand, sich so betragen, daß ein Makel an ihnen bleibt für immer.“(380907-2-1)

Mir scheint es so, als wolle Hilde Roland in seiner romantischen/ erotischen Zurückhaltung bekräftigen. Sie wollen sich vermutlich eine stabile emotionale Beziehung aufbauen, bevor sie eine physische eingehen. Außerdem hatte sich Hilde zuvor, zu stürmisch für Rolands Verständnis, versucht sich Roland, auch körperlich, anzunähern. Da er zu diesem Zeitpunkt nicht an einem jüngeren Mädchen interessiert war, schrieb er hierzu rückblickend:

„Ich wollte diesen Gefühlsausbruch nicht, ich fürchtete ihn (die Erinnerung daran braucht Ihnen gar nicht peinlich zu sein), weil ich keine falschen Hoffnungen nähren wollte.“ (380905-1-1)

Im Gegensatz zu Hilde empört sich Roland stärker über den jungen Offizier als über das Mädchen. Er meint, dass der junge Herr Verantwortung übernehmen müsse. Er schreibt: „Wer Weibes Ehre so gering achtet, ist ein miserabler Kerl. Das möchte man dem Mädchen zum Trost sagen.“ (380910-1-1) Interessant ist hier die Verteilung der Geschlechterrollen: Hilde brüskiert sich über das Verhalten ihrer Freundin, während Roland die Schuld bei dem jungen SS-Offizier sucht und das Mädchen in Schutz nimmt. Beide scheinen sich jedoch einig, dass sexuelle Handlungen gut überdacht sein sollten und ein hohes Maß an Verantwortung mit sich bringen. Die Tatsache, dass der sexuelle Akt des Mädchens und des Offiziers unehelich stattfanden wirkt nebensächlich, die Trennung als Folge scheint für die Beiden die eigentliche Problematik darzustellen.

Geschlechtsverkehr und Masturbation wurden in immer jüngeren Alter praktiziert. So nahm die Masturbationsfreudigkeit laut Zeitzeuginnen seit dem frühen 20. Jahrhundert stetig zu.[17] Man sollte annehmen, dass sich die doch recht fromme Hilde vermutlich keinen solchen irdischen Bedürfnissen hingab, jedoch gibt ihr Brief vom 28. Januar 1940 Anlass zu erotischen Interpretationen. Sie schreibt, dass sie an diesem Sonntag ganz alleine Zuhause war und sich am Nachmittag ganz Roland und seinen Briefen hingab. Sie meint sie wäre danach „freudetrunken, müde und froh“ gewesen und habe den Drang zu schlafen verspürt. Auf der einen Seite mahnt sie sich für ihr Verhalten, jedoch meint sie, dass ihr „Glückstraum“ auf der Realität beruht und sie es sich deshalb kaum übel nehmen könne. (400128-2-1) Man könnte demzufolge interpretieren, dass Hilde sehr wohl Selbstbefriedigung betrieb (natürlich nur mit Roland als Hauptfigur ihrer erotischen Phantasien), auf jeden Fall kann man annehmen, dass sie sich erotischen Träumereien hingab.

Die Experimentierfreudigkeit im Ehe-Bett stieg an und auch Verhütungsmittel erfreuten sich zunehmend an Beliebtheit. Man sprach nun auch über Sexualität, was laut Eder ein Indiz für die öffentliche Diskursivierung des Themas ist.[18] So schreibt auch Roland im Februar 1939 lautmalerisch und voller Wonne an seine Hilde. War Hildes unüberlegter, stürmischer Kuss ein paar Monate zuvor bereits Anlass für Diskussionen über Moral geworden, scheint die physische Zusammenkunft bei Hildes Besuch die Erfüllung Rolands' geheimster Träume geworden zu sein, die er mit dem Weihnachtsabend vergleicht. Roland sieht diese Vereinigung jedoch nicht als selbstverständlich an, sondern vielmehr als eine „Süßigkeit“ die man sich erst erarbeiten muss, indem man die Beziehung zueinander hegt und pflegt und sämtliche Prüfungen, die der Alltag bereitstellt, zusammen bewältigt. Roland sieht in dieser Vereinigung also nicht nur das rein physische Element, sondern ist sich seiner Pflichten als ein moralischer Mann dieser Zeit bewusst. Er sieht es nun als seine Aufgabe an Hilde zu einer ehrenwerten Frau zu machen, denn sie sprechen auch über Hochzeitspläne. (390221-1-1) Vielleicht versuchte Roland jedoch auch, durch die romantisierte Wortwahl in seinem Brief, vorzutäuschen, dass sie den konservativen Normen treu geblieben sind. Es scheint des Weiteren, dass beide noch jungfräulich waren und gemeinsam ihr erstes Mal erlebt hatten. Denn Roland meint, er hätte noch nie eine Frau in seinen Armen gehalten (390221-1-1) und Hilde schreibt, dass sie nun zur Frau geworden ist. Außerdem versichert Hilde Roland ihre Treue. (390222-2-1)

Wie zuvor erwähnt, dienten Briefe als ein Ersatz für eine verbale Kommunikation unter den Voraussetzungen der Mobilität und Materialität.[19] Private Briefe gibt es vermutlich erst ab dem 13. Jahrhundert und sie resultierten aus einem wissenschaftlichen Kontext.[20] Sie ebneten den Weg für den Liebesbrief, der spätestens mit der Briefstil-Reform von 1751 schließlich Fuß fassen konnte.[21] Die bürgerliche Sexual- und Familienideologie der Wende des 19. auf das 20. Jahrhundert verfälschte jedoch die Ansichten über das Sexualverhalten dieser Zeit.[22] Durch Zuhilfenahme von zeitgenössischen Sexualumfragen, Arbeitermemoiren und –autobiographien, als auch lebensgeschichtlichen Interviews konnte dieses verzerrte Bild jedoch widerlegt werden.[23] In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einer „Sexual-Reform“, die den Umgang mit Sexualität erleichterte.[24] In dem Fall von Hilde und Roland, sie kamen schon vor ihrer Hochzeit mit Sexualität in Verbindung, indem sie miteinander schliefen. Sie taten es jedoch nicht aus purer Fleischeslust, sondern dieser Zug war reiflich überlegt und beide waren sich ihrer Verantwortung bewusst, die in dieser Zeit von ihnen erwartet wurde.

Abschließend bleibt zu sagen, dass das Thema der Sexualität in dieser Zeit durchaus noch Forschungsdefizite aufweist, es aber vermutlich schwierig ist diese Lücken zu füllen. Zeitzeugen werden rar und die Gesprächsbereitschaft hält sich vermutlich in Grenzen. Wie exemplarisch aufgezeigt wurde, werden sexuelle, aber auch physische Annäherungen häufig nicht direkt angesprochen, sondern in lautmalerische Schrift verpackt, was ein herauslesen eventuell zusätzlich erschweren kann. Dennoch sollte man versuchen weiterhin mit autobiographischen Quellen zu arbeiten, wie es dieses Projekt tut, und somit neue Erkenntnisse erlangen.

 

=[1] Vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: Der Brief – historische Betrachtungen. In: Höflich, Joachim R.; Gebhardt, Julian (Hg.): Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS. Frankfurt a. Main u.a. 2003, S. 63.

[2] Vgl. Ebd., S. 63.

[3] Vgl. Ebd., S. 64.

[4] Ebd., S. 64.

[5] Vgl. Ebd., S. 67.

[6] Ebd., S. 67.

[7] Vgl. Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. 2. Auflage, München 2009, S. 172.

[8] Vgl. Ebd., S. 174.

[9] Ebd., S. 174.

[10] Vgl. Ebd., S. 206-207.

[11] Ebd., S. 207.

[12] Vgl. Ebd., S. 207.

[13] Vgl. Ebd., S. 207-208.

[14] Vgl. Ebd., S. 208.

[15] Ranke-Heinemann, Uta: Van de Valde. Die vollkommene Ehe. In: Die Zeit, Nr. 46, 1982, S. 47.

[16] Vgl. Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. 2. Auflage, München 2009, S. 208.

[17] Vgl. Ebd., S. 208.

[18] Vgl. Ebd., S. 209.

[19] Vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: Der Brief – historische Betrachtungen. In: Höflich, Joachim R.; Gebhardt, Julian (Hg.): Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS. Frankfurt a. Main u.a. 2003, S. 63-64.

[20] Vgl. Krauße, Erika: Vorbemerkung. Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle. In: Dies. (Hg.): Der Brief als wissenschaftliche Quelle (=Ernst-Haeckel-Haus-Studien: Monographien zur Geschichte der Biowissenschaften und Medizin, Band 8). 2005, S. 3-7.

[21] Vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: Der Brief – historische Betrachtungen. In: Höflich, Joachim R.; Gebhardt, Julian (Hg.): Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS. Frankfurt a. Main u.a. 2003, S. 65.

[22] Vgl. Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. 2. Auflage, München 2009, S. 172.

[23] Vgl. Ebd., S. 174.

[24] Vgl. Ebd., S. 208.

 

Literaturverzeichnis:

Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. 2. Auflage, München 2009.

Krauße, Erika: Vorbemerkung. Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle. In: Dies. (Hg.): Der Brief als wissenschaftliche Quelle (=Ernst-Haeckel-Haus-Studien: Monographien zur Geschichte der Biowissenschaften und Medizin, Band 8). 2005.

Nickisch, Reinhard M.G.: Der Brief – historische Betrachtungen. In: Höflich, Joachim R.; Gebhardt, Julian (Hg.): Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS. Frankfurt a. Main u.a. 2003.

Ranke-Heinemann, Uta: Van de Valde. Die vollkommene Ehe. In: Die Zeit, Nr. 46, 1982.

aidan_karpin

Sa., 28.10.2023 - 23:01

Veröffentlicht im Trug&Schein-Projekt: Ein Briefwechsel, www.trugundschein.org, am 15. Oktober 2015 [T&S-Benutzerbeitrag: BB151015]

Selbstkonstruktion und -inszenierung im Nationalsozialismus von Daniela Eichler-Schwarzkopf, Wien

Dieser Beitrag präsentiert die Selbstkonstruktion und -inszenierung der Liebenden Hilde und Roland kurz vor ihrer Hochzeit im August 1940. Die Briefe der beiden geben unter anderem einen Einblick in ihren privaten Alltag, ihre Denkweisen und Werturteile sowie den Einfluss der nationalsozialistischen Politik. Ich analysiere Sequenzen zweier Briefe aus ethnologischer Sichtweise unter Einbeziehung historischer, sprach-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Aspekte. Davon ausgehend, dass die Brautleute der propagandistischen Indoktrination des NS-Regimes unterliegen und diese in die Liebesbeziehung der beiden hineinreicht, zeige ich die Auswirkungen auf Hildes und Rolands Auffassung von Geschlechterrollen und Partnerschaft sowie den Einfluss traditioneller Einstellungen und Wertorientierungen.

Die Arbeiterin Hilde und der um 13 Jahre ältere Lehrer Roland schrieben einander aufgrund ihrer getrennten Aufenthaltsorte von Mai 1938 bis Februar 1946 regelmäßig Briefe. Aus der anfänglichen Briefbeziehung wurde allmählich eine Liebesbeziehung, deren vorläufiger Höhepunkt schließlich die Hochzeit am 13. August 1940 war. Diese erfolgte in einer Zeit, in der sich Deutschland seit über sieben Jahren unter einem diktatorischen Regime und seit fast einem Jahr im Krieg befand und die von Unsicherheit und Veränderung, Terror und Gewalt geprägt und die Bevölkerung einer alle Lebensbereiche umfassenden Propaganda ausgesetzt war. Doch nicht nur Deutschland befand sich in einem Ausnahmezustand, auch Roland und Hilde unterlagen kurz vor ihrer Hochzeit einer Vielzahl an Emotionen, die von Liebe über Aufregung, Anspannung und Vorfreude reichten, wie in den von mir zur näheren Betrachtung ausgewählten Briefen vom 29. Juni 1940 (400629-1-1)  und 1. Juli 1940 (400701-2-1) deutlich wird. Die von Hilde eingegangene Verpflichtung dem Pfarrer ehrenamtlich einige Stunden täglich zwei Wochen lang zur Verfügung zu stehen, über die sie Roland in ihrem Schreiben vom 27. Juni 1940 (400627-2-1) berichtete, war Anlass für Braut und Bräutigam sich selbst darzustellen und ihren Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben Ausdruck zu verleihen. Aus ethnologischer Sichtweise ist es interessant zu fragen, wie Roland und Hilde knapp vor ihrer endgültigen Bindung in einer bewegten Zeit ihr Selbst konstruierten und inszenierten.

Ergänzend soll der Einfluss der nationalsozialistischen Politik auf die private Beziehung der beiden Liebenden näher betrachtet werden. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf Arbeiten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen, beispielsweise des Soziologen und Historikers Klaus Latzel, der über Feldpostbriefe als Quelle schreibt, auf Arbeiten zu Geschlechterkonstruktionen in Briefen der Kulturwissenschafterin Inge Marszolek oder der Historikerin Kate Hunter und aus dem Bereich der Sprachwissenschaften auf Texte von Sonia Cancian und Isa Schikorsky, die den Sprachstil in Liebes- und Kriegsbriefen untersuchen. Gisela Bock  betreibt unter anderem sozial- kultur- und politikgeschichtliche Geschlechterforschung und schreibt im angeführten Beitrag über unterschiedliche Frauen und deren Bedeutung im Nationalsozialismus. Zu Selbstdarstellung und -inszenierung führe ich einen Text von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann an, die das Konzept der Positionierung in der Erzählforschung auf die Identitätskonstitution anwenden und zeigen, wie die KommunikationspartnerInnen den anderen deutlich machen, wie sie gesehen werden möchten und wie sie die jeweils anderen sehen. Meine These vorab ist, dass die Brautleute der propagandistischen Indoktrination unterlagen und diese in die Liebesbeziehung der beiden hineinreichte.

In seinem Brief vom 29. Juni beklagte sich Roland über Hildes Dienst beim Pfarrer und erklärte seiner Braut, warum er „nicht ganz damit einverstanden sein“ (400629-1-1)  konnte. Er gab seinen Befürchtungen Ausdruck, dass er durch Hildes ehrenamtliche Tätigkeit in seinen Rechten „(Briefeschreiben)“ (400629-1-1)  beschränkt würde. Die Eigenverantwortlichkeit, die Hilde durch das Annehmen des Ehrendienstes beim Pfarrer zeigte, schien nicht in das bereits vor und schließlich während des Nationalsozialismus gängige Bild der untergeordneten Frau zu passen, das Roland von seiner zukünftigen Ehegattin vor Augen hatte. Die Tatsache, dass sie ihn vor ihrer Entscheidung nicht um Rat ersucht hatte, war für ihn schwierig zu akzeptieren. Marszolek weist auf die nationalsozialistische Geschlechterideologie hin, die die Bestimmung der Frau als dem „Mann zur Seite gestellt, aber ihm als Führer und Kamerad untergeordnet“[1] sieht. So meinte auch Roland auf Unterordnung „dringen“ (400629-1-1) zu müssen. In seiner Kritik kam in unterschiedlicher Form immer wieder der Begriff Recht vor, der die von ihm beanspruchte und ihm laut Gesetz zustehende Stellung betonte. Latzel weist darauf hin, dass Frauen zur Zeit des NS – Regimes ihren Männern rechtlich und faktisch untergeordnet waren, auch wenn dies durch die ideologische Aufwertung der Mutterschaft zu gesellschaftlicher Gleichberechtigung umgedeutet wurde. Der Ehemann sollte „Führer der Familie“ sein, sollte seine „Ehefrau als Beraterin“ akzeptieren, aber „in allen wichtigen Angelegenheiten das letzte Wort“[2] behalten. Um dieses letzte Wort hatte Hilde ihren Roland mit ihrer eigenmächtigen Entscheidung gebracht. Roland jedoch erwartete freiwillige Unterordnung und die Anerkennung seiner Stellung, die er auch durch die Behauptung seiner eigenen Prinzipien oder durch die Ablehnung von Hildes Wünschen oder Forderungen, zu erreichen suchte. Sein Verständnis von partnerschaftlicher Beziehung war in der traditionellen Auffassung von Geschlechterrollen, die auch bereits vor dem NS-Regime bestanden hatte, verwurzelt.

Roland schrieb von seiner Aufgabe als „Beschützer“ und bezeichnete Hilde als seinen „Schützling“ (400629-1-1) neben sich. Gemäß dem nationalsozialistischen Männlichkeitskonstrukt wurden Männern militärische Charaktertugenden zugeschrieben, die es ihnen ermöglichen sollten ihre Frauen gegen jegliche Feinde von außen zu schützen. „Die Stahlnaturen Ernst Jüngers wurden zum Männlichkeitsideal der NS-Volksgemeinschaft“[3], schreibt Marszolek. Der tapfere Soldat galt als Inbegriff von Männlichkeit, die sich in persönlichen Werten, wie “Mut, Hingabe an die Sache, Ehre, Treue, Glaube, Wille, Selbstzucht“[4] manifestierte. Auch Roland erwähnte seine Pflicht als Mann, Hilde zu beschützen, es gäbe schließlich „keine schönere Aufgabe“ (400629-1-1). Allerdings müsse er sich gegen Hildes Auflehnung  auch „wehren“ und „verteidigen“. Wenn Roland sich hier militärischer Begriffe bediente, so lässt dies, Schikorsky folgend, zum einen auf politische Propaganda rückschließen, Schlagwörter der Militärrhetorik sollten Optimismus ausstrahlen, Kampfmotivation versichern und Zuversicht auf einen positiven Kriegsausgang bekräftigen[5], zum anderen möglicherweise auf die Tatsache, dass Roland zum Zeitpunkt des Schreibens (noch) nicht Soldat war, jedoch schon gerne seinen Beitrag geleistet hätte. An anderer Stelle hatte Roland bereits seine Hilfe angeboten und sein Vorhaben geäußert sich „freiwillig zu dem Wachkommando auf dem W.“ (390902-1-1) zu melden. Mit der Idealisierung von Kampf wurde die Bevölkerung auf Krieg eingeschworen, Kameradschaft galt als „Garant menschlichen Zusammenlebens“[6]. Das Modell, auf das sich die NS-Kameradschaft stützte, stammte aus der Schützengrabenkameradschaft des ersten Weltkriegs, wurde im Nationalsozialismus jedoch hierarchisiert und bezog auch die Frauen mit ein. Roland verwies mit seiner Feststellung, Hilde sei sein Schützling ,neben‘ ihm, auf diese neue Form der Kameradschaft, die es Frauen ermöglichte als Kameradin an der Seite ihrer Männer gleichzeitig sowohl schwach und schützenswert als auch tapfer und zu Opfern bereit zu sein.[7] Rolands Interpretation von Männlichkeit wurde durch die nationalsozialistische Hierarchisierung dieses Kameradschaftsmodells beeinflusst, das in seiner erweiterten Form sowohl den männlichen Krieger als auch die schwache und zugleich tapfere Frau beinhaltete.

Roland beschrieb, was ,Männer‘ denken und tun. Des Weitern zeichnete er das Bild ,des Mannes‘ und ,der Frau‘ in Bezug auf die Verteilung ihrer Aufgaben. Laut Schikorsky entspricht diese neutrale Schreibweise vor allem der „Erfüllung gesellschaftlich konventionalisierter Rollenkonzepte“[8], die den im Nationalsozialismus propagierten Erwartungen an Ehemänner sowie an Soldaten ausdrücklich entsprachen. Roland ging mit der zusätzlichen Aussage „wenn das überhaupt nötig ist“ (400629-1-1) davon aus, dass Hilde ähnlich dachte. Er erklärte sie durch seine Aussage zu einer Person, die verständig genug war, sich nicht gegen die Unterordnung aufzulehnen. Er gab ihr zu verstehen, dass freiwillige Unterordnung ihrerseits keinerlei Druck seinerseits erforderlich machte und wies ihr so die von ihm gewünschte und den Rollenerwartungen entsprechende Position zu.[9] Wenn es allerdings darum ging seine Gefühle und Wünsche darzulegen, blieb Roland in seinen Äußerungen vage und unbestimmt: er könne „nicht ganz“ einverstanden sein, er werde in seine Rechten „verkürzt“, er müsse „etwas“ vertreten oder ablehnen, er „will hoffen“, dass das Hildes letzter Seitensprung wäre (400629-1-1).  Auf indirekte Weise versuchte Roland Hilde zu lenken und ihr damit Spielraum für die eigene Interpretation zu lassen ohne negative Konsequenzen durch direkte Anordnungen fürchten zu müssen. Auch wenn, so Lucius-Hoene/Deppermann, diese indirekten Äußerungen unter anderem auf Erfahrungen, Wissensbestände oder Konventionen verweisen, so fehlten Roland die gemeinsamen Wissensbestände, die Erfahrungen einer gelebten Partnerschaft, auf die er zurückgreifen konnte. Er steckte vielmehr durch seine unbestimmten Bemerkungen Grenzen ab, innerhalb derer sich seine Ehe in Zukunft entwickeln könnte, ohne konkret zu werden. Ergänzend könnte sein abschließendes „aber genug davon“ (400629-1-1), Schikorsky gemäß, auf kollektive mentale Dispositionen schließen lassen, die wiederum aus gesamtgesellschaftlicher, emotionaler Neutralität resultierten könnten. Emotionen wurden entweder nicht oder nur teilweise thematisiert, da dies nicht den allgemeinen Gepflogenheiten entsprach.[10] Marszolek wiederum meint, dass dafür auch die „von Krieg und Nationalsozialismus abverlangte[n] Härtung und Panzerung“[11] verantwortlich sein könnten. Abseits der gängigen Geschlechterkonnotationen blieb Roland bezüglich seiner Gefühle und Empfindungen aufgrund fehlender Erfahrungen und aufgrund kollektiver emotionaler Neutralität zurückhaltend und vage.

In ihrem Brief vom 1. Juli 1940 erklärte Hilde Roland als Antwort auf seinen Brief ihre Beweggründe den Ehrendienst beim Pfarrer anzunehmen und rechtfertigte ihre Handlungsweise. Auch wenn sie ihrem Bräutigam in Bezug auf sein „Recht“ (400701-2-1) an ihr zustimmte, auch seine Verstimmung nachfühlen konnte, so lehnte sie sich dennoch vehement gegen seine Bevormundung auf und erklärte nur sich selbst als für ihr Handeln verantwortlich. Marszolek bezeichnet diese selbstverantwortlichen Handlungsspielräume als „Frei-Räume“, die „entgegen dem dominanten Frauenbild, das die Frau als Mutter auf die häusliche Sphäre zu beschränken versuchte“[12], eine Option darstellten aus der Privatheit des Familienlebens herauszutreten und, als Bonus für das NS – Regime, Frauen als Erwerbstätige oder für den Kriegsdienst zu nutzen. Hilde empfand ihre eigenmächtige Entscheidung als notwendig, da sie „sofort gebraucht wurde“ und keine Zeit hatte lange nachzudenken. Durch die Verhältnisse im nationalsozialistischen Regime waren Frauen zwar in der partnerschaftlichen Hierarchie untergeordnet, aber gleichermaßen den Männern „ebenwürdig“[13]. Deshalb zweifelte Hilde weder an der Richtigkeit ihrer Entscheidung noch an einer positiven Reaktion ihres Bräutigams. „Ich war bei dem Gedanken an Dich völlig ohne Arg“, (400701-2-1) so Hilde. Bock zufolge, lag dem NS-Regime nicht nur daran, den Frauen „einzig die Familie und gewissenhafte Mutterschaft“[14] zuzuordnen. Außerhäusliche Aktivitäten waren üblich, so stieg die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen ab 1933 stetig und war während der gesamten Zeit unter nationalsozialistischer Herrschaft höher als in den meisten anderen westlichen Staaten. Die Grenzen traditioneller Geschlechterrollen konnten überschritten werden, da die Nationalsozialisten den Frauen hinsichtlich ideologiekonformer Karrieren Zugeständnisse machten.[15] Aufgrund der doppelgleisigen Geschlechterpolitik des NS-Regimes konnte sich Hilde als moderne und selbstständige Frau präsentieren.

Hilde beschrieb Roland ihre Überlegungen hinsichtlich ihres Engagements, die „Grundsätze“ (400701-2-1), die sie veranlassten die Arbeit anzunehmen. Hildes Entscheidung wurde zunächst davon getragen, dass überall Arbeitskräfte gebraucht wurden und sie ihren Beitrag „im kleinen an der inneren Front“ (400701-2-1) leisten konnte. Frauen mussten, wie Marszolek meint, mit fortschreitender Kriegsdauer sowohl bereit sein „Krieg in der Heimat zu führen“[16] als auch ihre häuslichen Pflichten wahrzunehmen. Die Volksgemeinschaft war oberster Wert und höchstes Ziel der NS – Politik, in ihr sollten sich, abseits von sozialen, religiösen oder klassenspezifischen Unterschieden, die Deutschen gegen den Feind vereinen.[17]  Die NS-Volksgemeinschaft benötigte die Opferbereitschaft auch der Frauen, ihren Dienst am Volk, für die Gemeinschaft. Hilde brachte dieses Opfer, nicht nur, indem sie sich, wie sie sagte, „nützlich“ machte, sondern auch durch „doppelte Leistung daheim“. Denn, so Hilde, „Was nützt es, wenn ich ohne Mühe opfere?“ (400701-2-1). Opferbereitschaft wurde von Männern und Frauen erwartet, die Opferbereitschaft war allerdings, wie Latzel hervorhebt, nach Geschlechtern differenziert. Frauen hatten demnach ihr Opfer sowohl für den Staat als auch für ihre Männer zu bringen.[18] Latzel meint weiter, dass durch die Verwendung der Opferrhetorik das eigene Leben wichtiger und größer dargestellt wird als es tatsächlich ist. Hilde betonte mehrmals, dass sie unbezahlt arbeitete, sie bezeichnete ihre Tätigkeit als „Ehrendienst“ oder „Ehrenamt, wo ich nicht Lohn beziehe“ (400701-2-1), als Aufgabe, derer sie sich gewachsen fühlte und die die ihr selbst Freude bereitete. Auch die Anerkennung des Pfarrers war ihr eine Erwähnung wert. Ihre Arbeit, wie beispielsweise der Dienst beim Pfarrer, war eine Form der sozialen Praxis, durch die Hilde zu einem Teil der NS-Volksgemeinschaft wurde.

Hilde entwarf ein Bild ihrer gemeinsamen Zukunft mit Roland und beschrieb das Leben, wenn die beiden Liebenden vereint wären. Sie idealisierte ihr zukünftiges Eheleben und meinte, dass sie „im höchsten Vertrauen und im besten Verstehen alles, was das Leben mit sich bringt“ (400701-2-1) in Kameradschaft teilen würden. Solche Idealisierung, so Cancian, geht in schriftlicher Kommunikation oft Hand in Hand mit Trennung. Der Partner, die Zukunft, die Beziehung unterliegen einer Überhöhung, die dazu dient, Gefühle nicht nur auszudrücken, sondern erst zu schaffen oder auszuweiten. [19] Wenn Hilde das „Schöne und Beglückende unserer Liebe“ (400701-2-1) zitierte und von deren höchstem Wert schrieb, so tat sie das nicht nur, um ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen, sondern diese sowohl bei sich als auch bei Roland zu verstärken. Des Weiteren entsprach sie damit dem nationalsozialistischen Gedankengut, das die „arische“ Ehe, die „»Keimzelle des Staates«“[20], als notwendig und für den Aufbau der Volksgemeinschaft als von besonderer Bedeutung erachtete. „Die Welt der Frau ist, wenn sie glücklich ist, die Familie, ihr Mann, ihre Kinder, ihr Heim.“[21] Sie schrieb davon, nur mehr eine Woche beim Pfarrer zu arbeiten, und dann nur noch Roland zu gehören. Marszoleks Argumentation folgend, war Hilde zwar stolz auf ihre Selbstständigkeit, sie wurde jedoch nicht zum Leitbild ihres Lebens. Ihre Selbstständigkeit sah Hilde als zeitlich begrenzt, „noch eine Woche geh ich in's Pfarrhaus“, danach wäre Roland ihr Beschützer für „alle Tage“ (400701-2-1).  Zum Abschluss all ihrer Rechtfertigungen und Erklärungen bezüglich ihrer eigenmächtigen Entscheidung, kehrte Hilde zu dem zurück, was Roland sich von ihr wünschte und dem traditionellen Frauenbild entsprach: die dem Mann untergeordnete, aufopferungsvolle und ergebene Kameradin, die in der Ehe ihre Erfüllung findet. Hilde räumte der nationalsozialistischen Propaganda bezüglich der Rolle und Stellung der Frau einen Platz in ihrem Leben ein und akzeptierte damit das dominante Frauenbild des Nationalsozialismus.

Private Korrespondenz kann sich als aufschlussreiche Quelle erweisen, die, entsprechend befragt, aus der Vergangenheit erzählt. Hildes und Rolands Briefe stellen innerhalb dieser Quellengattung bezüglich Umfang und Dauer der Kommunikation eine Besonderheit dar und sind deshalb umso mehr geeignet, Auskunft über historische und soziokulturelle Lebenswirklichkeiten der Schreibenden zu geben. Die eingangs aufgestellte Hypothese hinsichtlich Art und Reichweite der nationalsozialistischen Einflussnahme lässt sich durch die Analyse der zitierten Briefe bekräftigen und um den Einfluss traditioneller Rollenbilder, die bereits vor dem NS-Regime bestanden hatten, ergänzen. Nichtsdestotrotz werfen die Briefe weitere Fragen auf, die in diesem kleinen Rahmen nicht beantwortet werden konnten. So könnte die Untersuchung der Briefe über einen längeren Zeitraum Aufschlüsse über die Veränderung von Einstellungen und Werten im Zeitverlauf ermöglichen oder Unterschiede in der Aufnahme und Umsetzung der nationalsozialistischen Propaganda nach Geschlecht und Generation zum Vorschein bringen.  Interessant wäre auch eine Vertiefung einzelner vorgestellter Thesen wie zum Beispiel zur sozialen Praxis der Herstellung der NS-Volksgemeinschaft oder NS-Kriegsgemeinschaft.  Abschließend muss jedoch festgehalten werden, dass trotz aller Ergiebigkeit der Quelle privaten Briefverkehrs immer nur Einblicke in die Lebenswelten der Schreibenden gegeben werden können und viele Fragen offen bleiben werden.

 

[1] Marszolek (1999): S. 46

[2] Latzel (1989): S. 213

[3] Marszolek (1999): S. 46

[4] Brockhaus (2006): S.169

[5] Vgl. Schikorsky (1992): S. 308 u. 309

[6] Brockhaus (2006): S. 164

[7] Vgl. Marszolek (1999): S. 45f.

[8] Schikorsky (1992): S. 298

[9] Vgl. Lucius-Hoene/Deppermann (2004): S. 168 und 169

[10] Vgl. Schikorsky (1992): S. 299

[11] Marszolek (1999): S. 52

[12] Marszolek (1999): S. 47 (Hervorhebung im Original)

[13] Marszolek (1999): S.47

[14] Bock (1997): S. 263

[15] Vgl. Bock (1997): S. 261-266

[16] Marszolek (1999): S. 43

[17] Vgl. Brockhaus (2006): S. 165

[18] Vgl. Latzel (1989): S. 216

[19] Cancian (2012): S. 758

[20] Latzel (1989): S. 215 (Hervorhebung im Original)

[21] Adolf Hitler, zit. in Latzel (1989): S. 212

Literatur

Bock, Gisela (1997): Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus. In: Heinsohn, Kirsten/Vogel, Barbara/Weckel, Ulrike: Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland. Campus Verlag: Frankfurt/New York. S. 223-277

Brockhaus, Gudrun (2006): Sozialpsychologie der Akzeptanz des Nationalsozialismus: Kritische Anmerkungen zu »Rausch und Diktatur«. In: Von Klimó, Árpád/Malte, Rolf (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Campus Verlag: Frankfurt/New York. S. 153-176

Cancian, Sonia (2012): The Language of Gender in Lovers´ Correspondence, 1946 – 1949. Gender & History, Vol. 24 No. 3 November 2012. S. 755-765

Latzel, Klaus (1989): Die Zumutungen des Krieges und der Liebe – zwei Annäherungen an Feldpostbriefe. In: Knoch, Peter (Hg): Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und Friedenserziehung. Metzler: Stuttgart. S. 204-221

Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf (2004): Narrative Identität und Positionierung. Gesprächsforschung – Online – Zeitschrift zur verbalen Interaktion (ISSN 1617 – 1837). Ausgabe 5, S. 166-183

Marszolek, Inge (1999): »Ich möchte dich zu gern mal in Uniform sehen«. WerkstattGeschichte 22. Ergebnisse Verlag: Hamburg. S. 41-59

Schikorsky, Ida (1992): Kommunikation über das Unbeschreibbare – Beobachtungen zum Sprachstil von Kriegsbriefen. In: Wirkendes Wort 2. S. 295-315

 

aidan_karpin

Di., 31.10.2023 - 20:55

Veröffentlicht im Trug&Schein-Projekt: Ein Briefwechsel, www.trugundschein.org, am 26. Mai 2013 [T&S-Benutzerbeitrag: BB130526]

Das Sein hat ein Gedächtnis von Peter Schyga, Hannover

Das Sein hat ein Gedächtnis[1]

Erinnern heißt in der Gegenwart leben, um die Zukunft vorzubereiten. Erinnerung ist ein Gut, das Menschen zu Menschen macht. Weil ohne das Wissen darum, wie wir geworden sind, wie wir sind, menschliche Existenz nicht möglich ist. In unserer schnelllebigen, auf materiellem Besitz und egoistischem Denken orientierten Leben kommt die Erinnerung oftmals zu kurz. Es ist nicht die Nostalgie, als eine Form der Heraufbeschwörung von scheinbar besseren Zuständen in der Vergangenheit, die uns dabei interessiert – „Früher war alles besser“ – sondern ein Nachdenken darüber, welche Ereignisse uns als Individuen und Volk betroffen haben.

Heilt die Zeit alle Wunden?

Wenn es um geschichtliches Erinnern geht, kommt das Phänomen der Zeit ins Spiel. „Zeit ist Vergangenheit und Zukunft im Jetzt“, so definiert der griechische Philosoph Aristoteles das Phänomen Zeit. Er erwähnt dabei aber auch, dass „chronos“ mehr ist als das Maß der Bewegung: „Wenn die Seele nicht misst, geht die Zeitordnung der Tage, Monate, Jahre im indifferenten Fluss der Bewegung verloren“[2].  Die Frage, was Zeit für das Leben der Menschen bedeutet, ergründen Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler seit Jahrtausenden, malen und modellieren Künstler in ihren Werken, intonieren Musiker, drücken Menschen in ihren Daseinserfahrungen aus und gießen es in Sprichwörter. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Lange-Weile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr![3]

Vergangenheitsbewältigung

„Am 8. Mai 1985, aus Anlass des 40. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs, hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Bedeutung einer Erinnerungskultur zum Ausdruck gebracht: „Wer vor der Vergangenheit Augen, Ohren und das Herz verschließt, wird weder in der Gegenwart leben, noch in die Zukunft denken können“. Der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ ist ein zweischneidiges Schwert. Während zum einen damit deutlich werden soll, dass die Gräueltaten und Verbrechen, die durch die nationalsozialistische und faschistische Herrschaft  begangen wurden, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bleiben müssen, kann andererseits mit dem Begriff leicht suggeriert werden, dass es angezeigt sein könnte, zu vergessen. Dass es einen individuellen und kollektiven Zusammenhang von Erinnern und Identität gibt, darauf haben zahlreiche psychologische, psychoanalytische und soziologische Studien hingewiesen. Die Mitscherlichsche Hypothese von der „Unfähigkeit zu trauern“ bedarf der Konfrontation mit der Fähigkeit, „Trauer in der Geschichte“ zu ermöglichen[4].

Was ist Erinnerung?

Mit Erinnerungen gehen Menschen individuell, situativ und im jeweiligen Lebensalter unterschiedlich um. Um diesen Phänomenen nachzugehen und festzustellen, was es mit dem Erinnern in den verschiedenen Lebensphasen der Menschen auf sich hat, haben sich zwei Wissenschaftler der Universität Bielefeld zusammen getan, deren Forschungsbereiche nach dem traditionellen Verständnis ihrer Zunft wenig gemeinsam haben: Hans Markowitsch vom Institut für Physiologische Psychologie und der Kulturwissenschaftler Harald Welzer; also ein Neurowissenschaftler und ein Geisteswissenschaftler. Die unterschiedlichen Denk- und Forschungsansätze in diesen beiden Wissenschaftsbereichen wurden seit dem 19. Jahrhundert in der bisher unumstößlichen Auffassung formuliert: Bei den Naturwissenschaften gehe es um das Erklären, bei den Geisteswissenschaften um das Verstehen. Doch seitdem die Neurowissenschaften dieses Bild ins Wanken gebracht haben, wonach menschliches Denken und Handeln nicht nur dem freien Willen unterliegt, sondern durch biologische Determinationen bestimmt wird, kommt eine Annäherung der beiden wissenschaftlichen Standpunkte zustande. Die Wissenschaftler entwickelten ein interdisziplinäres Projekt des autobiographischen Gedächtnisses, das sie „bi-psycho-soziales Modell“ nennen. Dabei beziehen sie drei unterschiedliche Perspektiven ein: Zum ersten geht es um die Ebene der Gehirnreifung, gewissermaßen also die organische Entwicklung, die sich im Laufe des Heranwachsens vollzieht. Bei der zweiten Ebene geht es um die psychologische Entwicklung, die durch Wahrnehmungen, Kommunikation und Gefühle gesteuert wird. Schließlich ist dann noch die Ebene des Sozialen, also der Kontakte mit Menschen und der Umgebung. Die Forscher haben aus diesen Grundlagen insgesamt fünf Formen des Gedächtnisses differenziert: Beim prozeduralen Gedächtnis geht es um das Erlernen von mechanischen und motorischen Fähigkeiten, die beim Säugling beginnen und sich im Laufe des Lebens weiter entwickeln. Dann gibt es das Priminggedächtnis, bei dem die Prägung und das Identifizieren von Situationen eine Rolle spielen. Zum dritten sprechen die Forscher vom perzeptuellen Gedächtnis, das Muster des Erkennens und Erinnerns liefert; wie etwa, dass man einen Apfel als Apfel erkennt, usw. Als viertes gibt es das Faktengedächtnis, das sich in Kurz- und Langzeitgedächtnis aufschlüsselt; und schließlich das autobiographische Gedächtnis, das sich im Laufe des Lebens entwickelt und in den unterschiedlichen Lebensphasen verschieden darstellt[5].

Biographische Erinnerung

Bei der biographischen Erinnerung, die sich in Selbstzeugnissen, Tagebüchern oder in Zeitzeugenberichten darstellt und sich als Gedächtnisleistung und als „Wiedergewinnung“ des früher im Gedächtnis Gespeicherten oder von etwas, was schon einmal gewusst war“ (Aristoteles) zeigt, ist zu  berücksichtigen, dass das wahre Erinnern nicht nur ein zufällig stattfindender Akt ist, sondern ein aktives, willentliches Sicherinnern im Jetzt-Bewusstsein, also eine intellektuelle Fähigkeit des Denkens erfordert. Das betrifft sowohl die individuelle Erinnerung, wie auch das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft, eines Volkes oder der Menschheit[6]. Werden Erinnerungen als Quellenmaterial angeboten, hat der Nutzer die Möglichkeit, geschichtliche Ereignisse nachzuvollziehen[7]. Handelt es sich bei den Quellen um Fundstücke, die gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, sondern als persönliche Zeugnisse, wie etwa Briefe, stehen die Leser vor einem Problem und einer intellektuellen Herausforderung. Authentizität und Bedeutsamkeit für geschichtliche Betrachtung muss sich als Biographieforschung vollziehen[8]  und ggf. verortet werden[9].

Geschichte als Alltag begreifen

Es sind nicht selten die Zufälle, die wertvolles historisches Quellenmaterial zutage bringen. Der Hildesheimer Radiomacher Dr. Thomas Muntschick stößt bei einem Flohmarkt auf einen Ordner, in dem sich, in Sütterlin-Schrift, Briefe aus den 1930er Jahren und einem Foto aus dem Jahr 1936 befinden. Darauf ist ein Chor von 15 jungen Frauen und sechs jungen Männern in der Sonntagskleidung der damaligen Zeit abgebildet. Eine junge Frau und ein junger Mann aus dieser Gruppe beginnen zwei Jahre nach der fotografischen Aufnahme einen Briefwechsel. Die Briefe vermitteln in „freimütiger Prosa“ Gedanken  der beiden jungen Menschen, die als Hilde Laube und Roland Nordhoff bezeichnet werden. Sie erzählen sich ihre alltäglichen Tätigkeiten im Beruf, in der Familie, der Freizeit, und sie tauschen sich aus über die Folgen des Krieges, das Nazi-Regime und vermitteln so die Befindlichkeiten eines „gewöhnlichen deutschen Paares während des zweiten Weltkriegs“. [https://info.umkc.edu/dfam/projekt/crowdsourcing/]

Lebendige Geschichte

Die Vermittlung von historischen Begebenheiten und Befindlichkeiten von Menschen, die sich nicht als gesellschaftliche oder politische Meinungsbildner oder Führungspersönlichkeiten darstellen, sondern als Zeitgenossen wie du und ich, kann dazu beitragen, dass wir Heutigen Geschichte nicht (nur) als eine Aneinanderreihung von „bedeutsamen“ Ereignissen begreifen, sondern im Sinne von Bertolt Brecht Fragen stellen können, die vielleicht nicht in Geschichtsbüchern geschrieben stehen:

Bertolt Brecht

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon -

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war

die Maurer? Das große Rom

Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen

triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz

nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis

brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang

die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

 

Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch, bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

Untergegangen war. Weinte sonst niemand?

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer

Siegte außer ihm?

 

Jede Seite ein Sieg.

Wer kochte den Siegesschmaus?

Alle zehn Jahre ein großer Mann.

Wer bezahlte die Spesen?

 

So viele Berichte.

So viele Fragen.


[1]             Václav Havel, „Fassen Sie sich kurz“, Rowohlt Verlag, 2007

[2]             A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 110

[3]             Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011,http://www.socialnet.de/rezensionen/12020.php

[4]             Ulrike Jureit & Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, 2010,http://www.socialnet.de/rezensionen/10056.php

[5]             Hans J. Markowitsch / Harald Welzer, Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, 302 S.

[6]             Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2011,http://www.socialnet.de/rezensionen/12634.php

[7]          Gerhard Schneider, Hrsg., Meine Quelle. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 2008,http://www.socialnet.de/rezensionen/6823.php

[8]             Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, 2011, http://www.socialnet.de/rezensionen/11821.php

[9]             Annette Eberle, Pädagogik und Gedenkkultur. Bildungsarbeit an NS-Gedenkorten zwischen Wissensvermittlung, Opfergedenken und Menschenrechtserziehung, 2008, http://www.socialnet.de/rezensionen/7630.php