Sonntag, den 10. Januar 1943
Herzensschätzelein! Geliebte! Meine liebe, liebste [Hilde]!
Ist das ein Wintersmann heute! Unaufhörlich hat es geschneit, in gleichmäßiger Dichte – hat alle Menschen in die Behausungen getrieben. Auch das Mannerli. Ungebahnt [sic] sind die Wege. Ich hatte heute am Vormittag einen Gang zur Dienststelle, da war die Hälfte des Bürgersteiges noch nicht freigeschaufelt, die Straßenbahnen fuhren fest und konnten nicht weiter und auf dem Viktoriaplatz bahnte man mit Schneepflügen Schneisen in das mächtige Schneebeet. So bin ich heute zu Hause geblieben – in 10 Minuten schon war man naß am ganzen Körper - es schneite ja den ganzen Tag. So ist es nun ein ganz stiller Sonntag geworden – und wenn ich jetzt einhalte in meiner Schreibbewegung, dann ist lautlose Stille. Als wäre ich eingeschneit oder eingemauert – ach, das wäre nicht schlimm – mit Dir! Aber solange ich Dir ferne sein muß, will ich Freiheit um mich, und einen Weg zu Dir, zu Dir, Geliebte! Eben pfeift eine Lokomotive – also eine wenigstens, die noch unter Dampf steht – daß sie auch fährt, wäre schon zu viel geschlossen – ach Herzelein, Geliebte! Ich will doch einmal heim zu Dir – da muß ein Weg sein – und ich werde ihn unablässig suchen und im Auge haben – ich muß an diesen Weg glauben – und Gott wird ihn offenhalten. – Oh Herzelein meine [Hilde], der uns zusammengab wird uns ein Wiedersehen schenken im Frieden – er wird uns zusammengeben zu gemeinsamem Leben.
Habe erst ein Mittagstündchen gehalten – schlafen konnte ich nicht – dann nahm ich mir mal die Flickerei vor. an [sic] der Mütze gab es ein paar Risse, am Colani [sic] ein paar lose Knöpfe und im Strumpf ein paar Löcher. Mit dem Nähzeug von meinem lieben Fraule bin ich dem Reißteufel zuleibe [sic] gegangen. Zeitig wurde es dunkel heute vom grauen Himmel. Habe mich dann zu einem Lesestündchen entschlossen. Abendbrot hielt ich darauf, und nun sitze ich wieder bei Dir. Ach, wenn alle Tage so wären, dann triebe die Sehnsucht mich davon n[ac]h einer lieben Häuslichkeit, nach ein paar lieben Menschen – dann wäre es hier schlimmer als im Kloster.
Heinrich ist unterwegs. Es hat in der Nachbarschaft eine Familie kennengelernt, beim Kirchgang wohl, dort steckt er schon die ganze Woche jeden Abend – und heute auch, von Mittag an. Wie angenehm das sein mag, so anbinden lassen möchte ich mich nicht – ach nein, dann sehnte ich mich heim zu meinem Herzlieb. So aus- und eingehen möchte ich zumal nicht, wo eine größere Tochter daheim ist, wie in jener Familie. Ach Du – da wäre ich so schnell am Ende mit meiner Unterhaltung, da käme die Unrast über mich, da würde ich eine Enge, eine Nötigung verspüren – da würde das Mannerli ganz wortkarg und still, a und abweisend, daß man es gar nicht wieder einladen würde. So hölzern bin ich dann, und befangen und ungeschickt, so unfrei und unwohl fühle ich mich dann – ich kann nicht anders, kann nicht aus meiner Haut – bin zu empfindlich für die Spannungen, zu hellhörig für die Untertöne und Obertöne – muß immer an Familie G. denken – ach Herzelein! Schäfelein! würde [sic] fliehen in meine Freiheit, wo ^ich ganz bei Dir sein kann, ganz bei Dir! wo alle Töne zusammenstimmen zu einer Harmonie – oh Du! geliebtes Weib! Zu Dir kann ich kommen, wie ich bin, bei Dir kann ich einkehren – Dir gehöre ich ganz! Zu Dir komme ich mit meinen Gedanken, mit meiner Sehnsucht und Liebe, mit allen klle Empfindungen – mit allem kann ich zu Dir kommen, kann Dir ganz frei gegenüberstehen, ganz mich Dir geben als dem einzigen Weib auf Erden – und alles Glück ist darin! Komm ich zu einem anderen Weib mit meinen Gedanken, dann werden sie gestört von den Spannungen – weckte ich eines anderen Weibes Empfindungen, dann hörte ich die Disharmonien: daß sie mir nicht gehörten, daß ich sie nicht erwidern kann, daß es ein falsches Spiel geben kann. Oh Herzelein! Geliebte mein!!! Dir gehöre ich! Dir gehöre ich ganz! Ich kann nur einem Weibe gehören! Ich kann doch nur Dich lieben und muß Dich so ganz lieben – und bin sooo glücklich in dieser Liebe! in solcher Liebe!!!
Und ich bin sooo ganz erfüllt von dieser Liebe! Ich verlange nur nach Dir! Ich bin so ganz am glücklichsten mit Dir allein: Bei Dir ist Frieden und Ruhe, der Seele Hafen! Bei Dir bin ich ganz daheim – bei Dir weiß ich mich ganz tief in Liebe geborgen – Du verstehst mich ganz – Du kennst mich ganz – oh Herzelein, da ist kein störender Laut, kein Mißton – Geliebte! Geliebte!!! Bei Dir ist Heimat! Oh Herzelein! So reiche tiefe Liebe wurde uns geschenkt – die kann nicht wanken, die kann nicht erkalten, Du!!!!!
Oh Herzlieb mein! Und wie ich zu Dir mit allem kommen kann, so wie ich bin – so kann ich Dich doch ganz ganz einlassen in mein Herz – oh Du! meine Liebe lädt Dich doch immer ein, sie wirbt doch unentwegt, daß Du kommst – mein ganzes großes liebes schönes Weib soll kommen – oh Du! Du!!! Kommen und Erwarten, Geben und Empfangen, das ist doch das Fluten und Wogen des Meeres der Liebe – oh Geliebte! Dich kann ich, Dich will ich ganz in mich aufnehmen – von Dir kann ich mich beschenken lassen mit allem – weil ich auch mich Dir ganz schenken kann – Dein – mein! ganz Dein – ganz mein!!! Herzelein! zwischen uns ist kein Rechnen und Wägen, ist kein Fälschen und Deuteln, kein Verstecken und Verstellen – Herz kommt zu Herzen, Herz spricht zu Herzen – und Zeichen der Liebe ist alles, alles! Du! Du!!! Ganz ungehemmt ergießen sich die Ströme der Liebe – all meiner Liebe und meines Herzens Kraft kommt zu Dir! Oh Herzlieb mein! Sooo tief ist der Liebe Strom gebettet! Bist doch mit mir oft in der Sächsischen Schweiz gewandert, in den tiefen Gründen auch – Du, so tief, sooo tief ist meiner Liebe Strom in Deinem Herzen gebettet – hat sich ein so tiefes Bettlein gesucht – und Du hast ihn so tief eingelassen in Dein Herzelein – Du! Du!!! Oh Geliebte! Weißt Du denn – wie lieb ich Dich habe, wie Du so ganz mir gehörst – Dein ganzes, liebes Herz? Wie Du in mir lebst?
Ach Du! So fragen wir einander in unserem Glück immer wieder – und wissen doch darum: daß die Liebe ein wundersam [sic] Weben und Wirken und Kräftespiel ist – ich erkenne meine Liebe, und sie lebt doch mir von der Deinen! Du bekennst mir Deine Liebe – und sie wird doch heimlich genährt von der meinen.
Herzelein! Ach Du! Wo kann ich Dich denn nun heute finden? Es wird kein Bote kommen heute, vielleicht jetzt ein paar Tage nicht, weil soviel Schnee ist. Ach Du! Wirst auch allein sein, oder allein Dich fühlen – ich bin zu froh heute und dankbar, als daß ich ungeduldig an den Ketten des Zwanges und der Unfreiheit rütteln mag, mit dem Schicksal hadern, das uns doch unsre Liebe schenkte, und auf das wir all unsre Hoffnung setzen auf ein Wiedersehen und ein gemeinsames Leben. Oh laß uns stille werden immer wieder – laß uns geduldig sein – laß uns Gott bitten um Kraft zu Glauben und Geduld und treuem Ausharren.
Ach Du! Geliebte! Bei Dir möcht ich sein – ganz lieb Dir nahe – Hand in Hand aneinandergelehnt – ach Du, näher noch – Herz an Herz – ganz innig lieb verschränkt – und Mündelein an Mündelein – ganz still, ganz still so ruhen und lauschen und nur einander küssen – Du! Du! Du!!!
Geliebte mein! Mein Alles Du! Mein Leben!!!!!
Herzensschätzelein! Nun ist Montag, da ich fertigschreibe. Das Mannerli hat gestern abend [sic] noch fein gebadet und ist dann ins Bettlein gekrochen.
Ach Du! Was ist das für ein Wintersmann heute: Wieviel Streiche er den Menschen spielt, in der Großstadt zumal – und man hat richtig seine Freude an dem übermütigen Element. 50 – 60 cm mag die zusammenhängende Schneedecke sein. In den engen Straßen türmen sich Wände. Ganze Kolonnen Schneeschaufler, Juden, sieht man in den Straßen. Der Autoverkehr ist noch lahmgelegt, auch der Bahnverkehr nach verschiedenen Richtungen. Ob es daheim auch soviel Schnee gegeben hat? Oh, da werden unsre Boten wohl Verspätung bekommen. Der Schnee wird nun auch schärfere Kälte bringen.
Ja, herzliebes Schätzelein, jetzt muß ich zu End [sic] kommen. Es wartet viel Arbeit. Aber Kamerad J. ist heute zurückgekommen.
Herzelein! Behüt Dich Gott! Er sei mit Dir auf allen Wegen! Möge er uns recht bald zusammenführen. Ich aber bleibe Dein, in ewiger Liebe und Treue Dein [Roland].
Und das liebe Küßchen will ich nicht vergessen.
Und heute gibt es noch etwas dazu: ein paar saftige Schneeb[älle.] Wohin? Nun, wohin ein übermütiger Bub zielt: nach dem lieben Duzzköppl [sic] – na, und dorthin, wo es Spaß macht, noch ein richtiges dickes Knöpfel draufzusetzen – Du! Du!!! Liebstes [sic], Herzallerliebstes mein! Du! Du!!! Ich hab Dich sooo lieb!
Und sehne mich nach Dir! Du! Du!!!!! !!!!! !!!
Und bleibe ewig Dein!
Dein glückliches Mannerli!
Roland Nordhoff
Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946
Nicole Andert
Es schneit immer noch unaufhörlich, die Wege sind ungebahnt, die Straßenbahnen festgefahren und auf dem Viktoriaplatz bahnte man Schneisen in das mächtige Schneebeet. Roland ist zuhause geblieben und hat einen stillen Sonntag. In dieser Stille vermisst er Hilde sehr. Als er eine Lokomotive pfeifen hört, wünscht er sich zu ihr. Nach dem Mittagstündchen beschäftigte er sich mit dem Flicken seiner Kleidung. Am Abend las er etwas vor dem Abendbrot. Er hat Heimweh. Er erzählt von Heinrich, der Anschluß an eine Familie gefunden hat. Aber das wäre nichts für ihn, denn er würde sich unwohl und eingeengt fühlen. Zu empfindlich für so etwas würde er lieber in die Freiheit seiner Einsamkeit fliehen, in der er Hilde finden kann. Ganz unvorstellbar wäre für ihn gar der Gedanke, sich mit einem anderen weiblichen Wesen auseinandersetzen zu müssen. Nur Hilde kann er in seine Nähe lassen. Er vermutet, dass aufgrund des vielen Schnees wohl heute kein Bote kommen wird.
Am darauffolgenden Montag schreibt er weiter, dass er am Sonntag noch gebadet hat. Und er hat Freude an dem vielen Schnee. Kolonnen von Schneeschauflern – Juden – sieht man in den Straßen. Auto- und Bahnverkehr sind lahmgelegt. Es wartet viel Arbeit und Kamerad J. ist heute zurückgekommen. Roland verabschiedet sich sehnsuchtsvoll mit ein paar saftigen Schneebällen, die er Hilde in Gedanken zuwirft.