Oberfrohna, am 3. Mai 1939.
Mein lieber, lieber [Roland]!
Unter den vielen Händen, die am Montag den Abreisenden nachwinkten, sah ich immer nur eine Hand. Eine liebe Hand, die ich jetzt ganz fest und dankbar drücken möchte. Längst schon waren die Lichter der Stadt zurückgeblieben, und ich stand noch immer am Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit, in die der Zug eilig hineinbrauste. Die letzten Minuten unsres Beisammenseins erscheinen mir jedesmal wie ein Traum — ich muß eine Weile für mich sein, daß ich mich wiederfinde. In die Wirklichkeit zurückfinden kann ich mich nicht im kleinen, stickigen Abteil — den Blicken Fremder ausgesetzt. Ein wenig abseits, allein, nur den dunklen Himmel über mir will ich sehen, den frischen Nachtwind will ich fühlen und dann dirigiere ich meine Gedanken über die Wehmut hinweg, lasse sie zurückschweifen zu den Stunden voller Glück und Frohsinn mit Dir — ich nehme mein Herz fest in Zügel und schelte mich inwendig unbescheiden und auch schwach, wenn mich der Abschied fassungslos macht. Er fällt mir so schwer, Du! Das eintönige Rattern des Zuges erinnert mich an meinen Alltag. Und da hinein will ich nur die frohen Gedanken mitnehmen, die sollen ihn übersonnen bis zum nächsten Wiedersehen.
Ach, daß ich Dich zuletzt betrüben mußte, Du, Lieber!
Es gibt Stunden, in denen ich alles dunkel sehe. Nichts braucht mir von außen her Veranlassung zu gehen zu solchen Gedanken. Sie kommen plötzlich, nehmen Gestalt an und lassen mich nicht los. Eine wahnsinnige Angst ergreift mich um Dich, daß ich Dich verlieren könnte.
Du, [Roland]! Ich liebe Dich! —
Meine Beschäftigung nimmt nicht alle Sinne in Anspruch. Um mich her nichts als Kinderei und Klatsch, ach Du kannst Dir ja keine Vorstellung machen. Wenn ich selbst auch gern einmal mittue, so doch alles in Maßen. Am Tage 10 St[un]den unter diesen Menschen sein, kann zum Ekel führen. Die Leere um mich empfinde ich besonders dann, wenn ich mit Dir zusammen war. Ich denke und grüble zu viel, das ist nicht recht und bringt auf dumme Gedanken, macht schwermütig. Wenn bei uns Mädchen der jeweilige Gesundheitszustand in Erwägung gezogen werden muß, so ist das allein doch nicht stichhaltig. Wenn man jung und gesund ist, muß man tapfer sein, sich in der Gewalt haben und diese kritische Zeit überwinden.
Ich habe zwar selbst schon empfunden, daß manchmal Gewalt not tut, um die körperliche Haltung zu bewahren. Ebenso macht diese Zeit Eindruck auf unser Seelenleben. Ich vermag Dir das nicht völlig klarzulegen; es äußert sich auch bei jedem Mädchen auf eine andere Art.
Ich selbst bin ein wenig schwermütig und sehnsüchtig, hungrig gestimmt.
Das alles soll aber keine Entschuldigung sein und Rücksichtnahme erfordern für das, was ich Dir tat. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich war traurig darüber, daß ich Dich betrüben mußte. Aber nun bin ich wieder zuversichtlich. Ich weiß, daß Du mir verzeihen wirst — ich habe in Deinen Briefen gelesen, Du! Wie immer, wenn ich verzagt und schwermütig bin, in Deinen Briefen finde ich mich wieder. In ihnen ist Zuversicht und Kraft und die Gewißheit, daß Du mich liebhast.
Ganz so trostlos wie ein andermal mutet mir die Zeit zur nächsten Begegnung nicht an. Jeden Abend lese ich ein Stück in Deinem schönen Buche, dann wartet das and[e]re auf mich. Und diesmal sehen wir uns, so Gott will, schon so bald wieder. Unter Deiner lieben Fürsorge langte ich wohlbehalten und ‚pünktlich’ in Chemnitz an, erwischte meinen Oberfrohnaer Zug und war ¼ 12 daheim. Die Eltern haben auf mich gewartet. Zuerst habe ich Deinen Brief gesichert. Sie haben schön über mich gelacht und meinten, daß ich ja am Sonnabend mit großer Sehnsucht erwartet worden sei. Dann hab ich noch bissel erzählt wie schön es war, ihnen den Mund wässrig gemacht, als ich von unsrer herrlichen Partie berichtete; dann endlich sank ich todmüde in meinen Kahn. Gestern kam auch unsre schöne Karte an, wurde mit Freude und Dank begrüßt. Und mit dem Stempel ist alles prompt so verlaufen, wie wir annahmen. Gesundheitlich will ich nicht klagen, herausgestellt hat sich nichts, sei ganz unbesorgt. Nur tüchtig matt bin ich noch, doch das ist bald vorüber und der Husten hat seine Zeit. Über die Bilder sollst Du zuerst urteilen. Ich muß heute an Dich schreiben, Du! Ich kann Dich nicht bis zum Sonntag warten lassen. Aber dies soll für heute genug sein. Wie geht es Deiner kleinen Freundin? Bitte, grüß sie alle von mir. Bist auch Du wieder gut daheim gelandet? Behüte Dich Gott, mein lieber [Roland]! Sei wieder froh und zuversichtlich, vertraue mit mir.
Ich hab Dich lieb! Ich küsse Dich, Du! Liebster!
Deine [Hilde].
Die Eltern senden Dir recht herzliche Grüße.
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Hilde Nordhoff
Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.
Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946