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[OBF-390831-001-01]
Briefkorpus

Schmilka am 31. August 1939.

Meine liebe, liebe [Hilde]!

Heute ist Dienstag. Diese Zeilen lege ich mir auf dem Dampfschiff zurecht. Ich habe jetzt einen eigenartigen Schulweg: Zu Fuß zum Wasserfall, mit der Straßenbahn bis Schandau, mit dem Schiff bis Schmilka.

Gegen Abend kehre ich dann nach Lichtenhain zurück und bringe dort alles ins Reine. Heute abend aber werde ich dann wie im Märchen sagen: Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr. Du kannst Dir denken, daß mich auf meinen Wegen so mancherlei bewegt. Es ist wieder einmal ein Wendepunkt erreicht. Der Abschied von Schule und Ort wird mir nicht schwer. Die Schulverhältnisse waren trüb und mangelhaft. Lieb geworden ist mir die Bleibe, das Haus mit den 5 Hufeisen, das für Dich und mich ein Ort kostbarer Erinnerung geworden ist.

Aber nun erst was mich am meisten bewegt:

Es war so schade, daß sich der Schatten des Kriegsgespenstes so auf unsere letzten Ferientage legte. Wenn ich auch sonst meine Ruhe bewahre, es legt sich mir schwer aufs Gemüt und lähmt jede Freude. Und unser Abschied, Liebste, er war so einsilbig, nüchtern — ich möchte mir Vorwürfe darum machen — es war gar kein rechter Abschied. Und das ist doch wieder ein gutes Zeichen: Im Vertrauen auf Gott dürfen wir froh daran denken, daß wir einander gewiß geworden sind, daß wir uns gar nicht mehr trennen wollen. Danke, Liebste, die Probezeit ist vorbei! Was wir uns wünschten, worum wir sorgten, es ist uns nun geschenkt. Es macht mich glücklich, daß Du Dir so rasch das Vertrauen und die Wertschätzung meiner Eltern erworben hast. Ach Liebste, wie leicht ist alles gewesen. Und Du darfst froh und stolz sagen, daß Du Dir meine Liebe erobert hast.

Gott segne unsern Bund und wache über unsrer Zukunft!

Am Donnerstag.

Herzallerliebste!

Heute gewinne ich zum erstenmal [sic] Zeit zum Schreiben. Ich habe eine neue Bleibe. Aus dem großen Fenster meines freundlichen Wohnzimmers im Erdgeschoß blicke ich über den Vorgarten, die Straße und eine Wiese auf die Elbe. Von drüben dringt liebes, vertrautes Geräusch: die Bahn, heute öfter als in den vergangenen Tagen. Doch nun will ich ein wenig der Reihe nach schreiben.

Mein Zug verließ den Hauptbahnhof etwa eine Viertelstunde später. Ich hätte Dich so gerne abfahren sehen. Aus dem Lautsprecher dröhnte es noch wiederholt herauf: Achtung, Bahnsteig 10...! Aber nun bist Du wohl wieder wohlbehalten zu Hause. Gegen 4 war ich in Schmilka. Ich ließ mich übersetzen mit meinen beiden Koffern und verschnaufte erst einmal in einem Kaffee. Beiläufig fragte ich nach der Schule, meine Koffer befahl ich der Obhut eines jungen Mannes, der mir den Eindruck machte, als wolle er noch länger dasitzen, und dann machte ich mich auf den Weg zur Schule. Unterwegs fragte ich einen Jungen nach dem Schulleiter. „Der ist bei den Soldaten“. Nun zum Bürgermeister. Der war eben unterwegs und verteilte Lebensmittelbezugsscheine. Aus dem Gespräch mit ihm ergab sich folgende Lage: Ich bin doch richtig versetzt. Der Schulrat hat mich gegen einen dienstjüngeren Aushilfslehrer (!) ausgetauscht, also richtig strafversetzt. Ich bin hier vorläufig der einzige Lehrer, mein eigener Schulleiter und brauche jetzt auch nicht zu pendeln. — Mit diesem Bescheid machte ich mich auf den Weg nach Lichtenhain, mit dem Dampfschiff nach Schandau, mit der Straßenbahn zum Wasserfall und dann hinauf. Ich habe dabei daran gedacht, daß ich diese Wege mit anderen Gedanken und Gefühlen schon gegangen bin. Nun fühlte ich mich in den alten Räumen fürs erste geborgen. H.s hatten schon eine Ahnung, sie waren betrübt. Aber wir haben alle vermieden, mit Worten viel daran zu rühren. Ich war wieder wie zu Hause.

Den Schulbeginn hatte ich auf ½ 9 [Uhr] festgesetzt. ¾ 6 bin ich aufgestanden, wieder hinuntergepilgert zur ersten Straßenbahn, von Schandau dann rüstig durch den frischen Morgen gestapft, der neuen Arbeit entgegen. Von 8 - 11 die Großen, von 1 - 3 die Kleinen. ½ 4 Uhr habe ich mich wieder auf den Dampfer gesetzt und die Heimreise angetreten, diesmal deutlich mit dem Gefühl, daß ich Heimatlos sei. Um die neue Wohnung ging meine Sorge. Der Bürgermeister nannte mir ein paar Leute, von denen er dachte, daß sie 2 Zimmer vermieten würden. Es klappte nicht. Oben war unterdessen mein Nachfolger eingezogen. Ein wenig schmerzlich und befremdend, weil ich doch bis 31. August gemietet hatte: Frau H. hatte mich umquartiert in Dein Zimmer vorn heraus, der Reisekorb war vom Boden geholt und stand vor der Tür mit der stummen Weisung: „Nun pack ein!“ So zögerte ich denn auch nicht länger, obwohl ich so müde war. Am Vortag hatte ich nicht drangehen wollen. So war es ein Abschiednehmen ohne Besinnen, in Hast und Schweiß, von den geliebten Räumen. Über alle Traurigkeit dieses Tages aber siegte der Gedanke an Dich, Geliebte. In Deinem Bettlein, in Deinem Kämmerlein habe ich gut geschlafen. So ward aus Abend und Morgen der dritte Tag. An ihm mußte sich die Wohnungsfrage entscheiden. Wieder derselbe Schulweg. Vor dem Mittagessen ging ich auf Empfehlung meines Nachfolgers, eines netten, lieben Menschen vom ersten Eindruck, zum Hause der Witwe Sch., Nr. 31 p. Sie war im Dorf. Ich mußte warten. Sie kam. Sie gefiel mir. Sie wollte mich nehmen. Aber 2 Zimmer. Es würde möglich sein. Die Lage gefiel mir. Die Räume gefielen mir. Ich war bereit, um jeden Preis anzubeißen. Und nun drehte es sich nur noch um den Preis. „Ich habe schon an Zollbeamte vermietet, und habe für das Zimmer 20 M bekommen ohne Licht und Heizung"“ (!!). Darauf ich: Ich habe für 2 Zimmer mit Licht und Heizung 21 M bezahlt. Darob  lebhaftes Abwehren. Zwei unvereinbare Standpunkte. Aber wir sind doch einig geworden: Ich zahle 28 M ohne Licht und Heizung. Freilich ist es teurer. Aber ich wohne wieder entzückend, Du, es wird Dir gefallen. Hoffentlich kannst Du mich bald einmal besuchen. Mein Schlafzimmer, ein Balkonzimmer im ersten Stock, ist noch bis Sonntag besetzt von einem Sommergast. Erleichtert trat ich den Heimweg an, nun wieder ganz mit dem Schlachtenplan meines Umzuges beschäftigt. Für Mittwochmorgen ¾ 7 bestellte ich mir einen großen Mietwagen. Ich stellte alles Gepäck bereit und legte mich müde zu Bett. So ward aus Morgen und Abend der vierte Tag. Pünktlich fuhr mein Wagen vor. War ich früher froh darüber und stolz darauf Habchenbabchen [sic] im großen Reisekorb abschleppen zu können, so sah ich mich jetzt erschreckt einer ganzen Ausstattung gegenüber: Reisekorb, 2 Reale [sic], ein Koffer, die Geige, 2 Pakete, und alles gerappelt voll und dabei das Bett noch zurückgelassen. Nachdem alles kunstvoll verstaut war, ein kurzer Abschied (Wir beide sollen bald einmal zu Besuch kommen), und fort ging’s. Nun weiß ich doch zunächst wieder, wohin ich gehöre. Mein Zimmer trägt noch die Spuren des Umzugs, Kiste und Koffer stehen herum, aber es bedeutet noch nicht Auszug. Kurz nach Mittag habe ich mich wieder auf den Zug gesetzt, um nach Sebnitz zu fahren, Geld zu holen, mein Konto zu löschen. Auf dem Rückweg bin ich wieder durch Lichtenhain, habe Ummeldungen und Abmeldungen besorgt und meine Autofuhre bezahlt. Wie ein Geist bin ich 3 Tage in Lichtenhain umgegangen, nachdem ich doch nun nicht mehr dahingehörte, Kinder und Erwachsene sahen mir nach wie einer Erscheinung. Mittwochabend 9 Uhr langte ich in meiner Behausung an, müde, die wichtigsten Arbeiten waren getan.

Es war so vielerlei in diesen Tagen. Die Schule war nur Nebensache. Und hinter meinen kleinen Aufregungen immer die große Unruhe der Weltgeschichte. Ich blicke dankbar zurück auf diese Tage: Es ist ohne Unfall, es ist wie im Traum von selbst gegangen. Und ich weiß, woher mir ein Teil der Kraft dazu kam.

Eben ist ein Schleppzug vorbeigefahren. Die schmucken Elbdampfer, die Boten der Sonntags- und Ferienfreuden, ziehen an meinem Fenster vorbei. Und unter meinen Augen gleiten die Wasser der Elbe stumm vorüber und bringen Grüße aus unserem Märchenland, Liebste! Ist das nicht herrlich?

Weil ich Dich habe und weil Du mir bleibst, werde ich bald verschmerzen. Beim nächsten Umzug darfst Du mir helfen. Ich bin nicht mehr allein, liebe, liebe [Hilde]!

Das mag für heute genug sein. Die Eltern sollen auch noch ein paar Zeilen haben.

Möchte Gott das Unglück eines Krieges gnädig abwenden. Er behüte Dich und die Deinen.

Sei recht herzlich gegrüßt von Deinem [Roland].

Ich küsse Dich, ich liebe Dich, Du meine liebe [Hilde].

Dein [Roland].

Vergiß nicht, Deine lieben Eltern herzlich zu grüßen. Erstatte Ihnen [sic] bitte Bericht

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Über den Autor

Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946