Sonntag, den 9. Februar 1941.
Mein liebes, liebes, teures Herz! Geliebte!! Meine liebe, liebe [Hilde] Du!!!
Dein lieber Bote vom Freitag ist bei mir – wie Du es wünschtest – und weil Du ihn so lieb besorgtest. – Herzlieb! Nun ist Sonntag und Sonnentag bei mir – nun bist Du bei mir! Du!!! Du!!!!! Er bringt mir so viel Heimlichkeit, soviel Traute, soviel köstliches Vertrauen – von Dir!! Von Dir!!!!! Herzlieb! Höchste Wonne und Seligkeit bedeutet das – von Dir!! Von Dir!!!!! Du!!!!!
Du! Ich weiß, wie Du mich auszeichnest damit, wie Du mich beschenkst, Dich [ü]berwindest aus Liebe – Du! Du!! Herzlieb! Es ist alles schon einmal gesagt zwischen uns. Und manches würde nie geschrieben, wenn wir uns nicht so ferne wären, weil es so zart ist und das satte Sonnenlicht scheut. Und deshalb schreiben wir ja auch ganz klein. Warum die Liebe das Licht scheut? Das innigste Liebhaben? Ist es Gewohnheit? Ist es Erziehung? Ist es eins sittliches Gebot? Siehst Du, ein ganz Entscheidendes, das die Problematik der Liebe wieder aufleuchten läßt. Die Darstellungen griechischer Künstler, vom Leben der Götter freilich, die sind so frei und zeigen vollste Harmonie zwischen Natur und den vermenschlichten Göttern. Wie es damit im öffentlichen Leben ausgesehen hat, weiß ich nicht. Ich muß dabei immer an die Erziehung denken. Von unseren Vorfahren hier in Deutschland wird berichtet, daß sie eine glückliche, ungetrübte Freiheit in diesen Dingen hatten. Diese Tatsache ließe also doch auf Erziehung schließen. In Finnland und in Schweden badet ja heute noch die ganze Familie durcheinander. Mit dem Christentum wohl ist eine andere Auffassung und ein anderes Empfinden zu uns gekommen. Christus selbst äußert sich nie in solchen Einzelheiten. Das Verschleiern und Verhüllen ist ja im Morgenlande heute noch am strengsten ausgeprägt, obwohl es doch dort noch um etliche Grad wärmer ist – es ist eine ganz seltsame dunkle Sitte, die wohl auch mit der Stellung der Frau ganz im allgemeinen zusammenhängt – ich möchte darüber mal etwas Gutes nachlesen.
Alle künstlerischen Darstellungen der Romantik und Gotik zeigen alle Gestalten streng und hart und betont verhüllt und spiegeln damit Sitte und Gebot und Empfinden der Zeit. Aller Ausdruck gipfelt im Kopf, im Antlitz, dem Sitz des Geistigen, des Zuchtvollen, Beherrschten, Aufwärtsstrebenden. Das Fleisch ist sündig – der Geist (der gute Geist) ist gut. Diese Scheidung Fleisch – Geist geht durch diese Zeit, sie gilt als typisch christlich, und uns[e]re Zeit lehnt sie ab und spricht von der Einheit von Körper – Geist – Seele. Daß diese Scheidung in ihrer ganzen Schärfe ausgesprochen christlich sei, glaube ich nicht. Wir müssen in der Bibel mal daraufhin nachlesen. Sie wird wohl eine Auslegung und Übersetzung vor allem des Mönchschriftentums sein, das den Leib gar ertöten wollte. Christlich aber ist gewiß das Gebot, keusch und züchtig zu leben. Und daß dieses Gebot überhaupt formuliert wird, ist schon allein Beweis dafür, daß es nichts ist mit der guten und schönen Einheit von Natur und Mensch. Schnell überzeugt sind wohl alle davon, daß es in der Mehrzahl der Fälle keine schöne Einheit ergäbe, wenn alle Menschen im Adam- und Evakostüm umherliefen!! Und noch am schönsten Menschenkörper ist etwas das Urbild der Schönheit Störendes – der bildende Künstler läßt es denn auch weg.
Eigenartig: die Tieren harmonieren in jedem Alter mit der Natur! Also ist dem Menschen doch auch hier etwas Besonderes zugedacht. Herzlieb! Ich habe den Gedanken schon einmal angerührt: daß der Mensch aus dem innigen Zusammenhang mit der Natur herausgefallen ist, daß er sich von Gottes Schöpfung gesondert (Sünde = Sonderung) hat – daß sie ihn nun unvollkommen, unzulänglich dünkt, daß er überall bessert und nachhilft und umgestaltet, vervollkommnet (wie er wohl meint), daß er die Gesetze der Natur zu seinem Vorteil am liebsten sprengen möchte – als ob ein Ahnen, oder Erinnern an Gottes Vollkommenheit ihn immer erfüllte, das ihn nun rastlos und unzufrieden immer umtreibt, dieses Ahnen und Sehnen zu erfüllen – Schöpfergeist steckt im Menschen.
Und diese Unzufriedenheit und dieses Besserwollen zeigt sich am schönsten und edelsten in dem sittlichen Streben, das jede Religion in Geboten formuliert. Also die modernen Apostel der Harmonie der vollkommenen zwischen Leib und Seele, zwischen Sein und Wollen, zwischen Mensch und Natur sind ganz auf dem Irrwege und übersehen die Sonderstellung des Menschen. Wenn die Welt nach dem Rezept gelaufen wäre, hausten wir heute noch dumpf und zufrieden in den Höhlen der Wildnis. Von ihnen werden wir uns aber auch nie beruhigen und einschläfern lassen in unserem Streben und Ringen um Gottes Gnade. Also, eine schöne Einheit ergäbe das nicht.
Eine gute? Erst recht nicht. Die Menschheit in ihrer Masse braucht immer wieder strenge Zuchtmeister, sonst verkommt sie – so wie die Kinder strenge Eltern und Lehrer brauchen, damit eben das gute Sichstrecken und Streben ihnen eingepflanzt wird. Genuß: so heißt das Gift, das den Menschen abhält von diesem Streben, das ihn lähmt, niederzieht, das ihn zuletzt auch einer echten Leidenschaft (guten od. bösen) unfähig macht. Und der Genüsse gefährlichster ist doch der bewußte (das Wort ist so giftig wie die Sache). Ich beobachte es nun schon lange Jahre an den Kindern. Und in der Welt der Erwachsenen ist das ja auch nicht anders. Dieser Genuß hat mit Liebe gar nichts gemein – dieser Genuß ist keine Leistung – er ist fruchtlose und dumpfe Selbstbefriedigung – und Selbsterniedrigung. Er zerrt den Menschen nieder und macht ihn zum Sklaven, wie die anderen Genüsse auch. Er macht hemmungslos, hemmungslos vor allem in der Wahl der Mittel, den Genuß zu erlangen: Die Menschen werfen sich weg, vergessen alle Scheu und Scham, verlernen alle Treue und Kraft der Überwindung, alle Tiefe des Sehnens, des Leidens, des Freuens, des Schenkens und Beglückens – ach Herzlieb! Sie sterben ab, sie werden zum Tier – und ihr einziger Ausdruck ist Gier nach neuem Genuß!
Wie unsre Welt heute schon im Taumel dieses Genießens steht, das können wir allenthalben beobachten. Alles wird ihr zum Genuß – und was ihr nicht Genuß sein kann, das lehnt sie ab, verächtlich, und noch hochmütig dabei. Ein ganz, ganz kleines, aber bezeichnendes Beispiel: die Zunahme der Leckereien.
Ich weiß es noch ganz genau: wie wir in dem einen Jahre als Schüler auch naschten, fast täglich, ein Viertel Pralinen zu 25 ₰ – ich hatte immer ein schlechtes Gewissen dabei, und das verleidete mir diese ganze Nascherei, daß ich zuerst wählerischer wurde und das geringe nicht mehr mochte, und das gute, teure mir dann nur noch leistete, um mich selbst zu belohnen. Und so bekommen wir von unseren Eltern Näschereien: als Lohn für eine Mühe. Daß zwischen dem Naschen und Genießen eine Verbindung besteht, ist mir klar. Näscherei aber als Lohn, ist das nicht ein ‚jüdisches Rechenspiel'? ist es nicht eine List, eine unlautere? Nun, in der Erziehung sind oft Listen angewandt worden und als gut erlaubt. Und der Sinn dieser List? Mit dem Mühen, die Kinder ein Stück vorwärtszubring[e]n, sie ein Stück Selbstüberwindung zu lehren, sie zu stählen und zu feien gegen das Gift des Genusses – und vor allem sie zu der Freude am Mühen, am Geleisteten zu führen – diese stille, heilige, gute Freude ist es, die man in den Menschen pflanzen muß. Dann wird alles in seine Schranken verwiesen, dann blüht auch wieder die Liebe, und tiefes, gutes, echtes Empfinden – dann wird aller Süßigkeit auch das Gift entzogen – dann ist alles Liebhaben ein Feiern und Krönen und Erfüllen – Herzlieb! Das ist es, wonach wir streben und worum wir ringen.
Und darum ist es gut und recht, wenn die Liebe blüht heimlich und verborgen und in den Armen der schweigenden, schützenden Nacht.
Ach Herzlieb! Wohin habe ich mich verloren – weil Du doch im Hellen Dein liebes, liebes Herzel nicht zeigen magst. Du! Du!! Ich verstehe Dich doch so lieb! Und Du empfindest so recht und gut damit – und ich habe Dir schon einmal davon gesprochen: Du sollst Dich selten machen – ich werde niemals etwas erzwingen oder mit Gewalt von Dir fordern – sollst schreibe ich falsch [sic] – wenn wir uns ganz liebhaben und einsfühlen, damit ist alles ein glückliches Schenken, dann fühlst Du Dich gar nicht beobachtet und Dein [Roland] schaut so verzückt, daß er gar nicht beobachtet – und die Einrichtung des Bademeisters, sie soll doch nur eine glückliche Stunde des Naheseins bedeuten, wenn es nur darum ist, und ich ahne freilich, daß sie es oft werden wird, Du!! wie der liebe Sonnabend! Herzlieb! Und die liebe Sonne darf gar nicht zusehen, die sperren wir hinaus! Du!! Du!!! Das verstehe ich doch so gut!
Meine liebe, liebe [Hilde]! Soviel wollte ich doch heute gar nicht schreiben – ich fürchtete mich ein wenig davor – und nun ist doch alles gut – es ist heute stiller in mir, und ich bin froh darüber. Gewiß, weil mein Herzlieb es auch ist. Geliebte! Meine liebe, liebe [Hilde]. Laß Dir lind und leis über Dein liebes Köpfchen streichen: ich liebe Dich! ich weiß es, ich bin dessen gewiß: ich liebe Dich! Wie froh mich das macht, wie dankbar – daß ich Dich lieben lernte, daß ich Dich lieben darf! Du! Du!! Dein [Roland] liebt Dich – von Herzen – wie in dem Liede, Deinem Liede! – und diese Liebe ist keine rasche, lodernde Leidenschaft, um die man bangen müßte, daß sie ermüden könnte, es ist eine große, tiefe Liebe, die fest verankert ist in unseren Herzen – sie ist kein lautes, lärmendes Glück, aber ein [s]tilles, erhabenes wie alle echte, tiefe Freude – ich liebe Dich! – ich liebe Dich! – leis und still und glücklich möchte ich Dir's sagen heute, daß es Dich alle Schmerzen vergessen ließe – Du! Du!! meine liebe, liebe [Hilde]! Mein liebes Weib! Du hast sie gestiftet! Du hast sie Dir errungen – Gott hat sie gestiftet!!
Nun ist auch der Sonntag vergangen – trübe, still und lind – am Vormittag Dienst – dann ein Mittagsstündchen mit Deinem lieben Boten – um 4 Uhr habe ich mich in die Schreibstube geflüchtet und Deiner gedacht! Und dann will ich gleich noch ein wenig meinen Koffer mustern. Du! Ich spanne, ob auch der Hauptfeldwebel heute zurückkommt – dann, dann bin ich dran! Du!! Zum Zeichen dessen [s]etze ich einen roten Strich unter den Absender morgen früh. Und im übrigen bleibts bei dem Telegramm.
Meine liebe, liebe [Hilde]! Behüte Dich Gott! Er lindere Deine Schmerzen und mache Dich bald gesund! Bitte grüße die lieben Eltern! Melde mich an. Ich werde nicht Zeit haben, ihnen noch einmal besonders zu schreiben. Richte ihnen viele herzliche Grüße aus.
Und nun möchte ich mich doch auch bei Dir anmelden! Ach ich bins ja schon so lange – und nun mag ich nichts lieber als Wort halten – und zu Dir kommen, Geliebte!!!!! Walte es Gott!! Mein liebes, teures Herz! Nimm diesen stillen Gruß heute von Deinem [Roland]. Er ist nicht minder lieb und herzlich, Du!!! Ich liebe Dich! „Ich liebe Dich in Zeit und Ewigkeit." Diese Ewigkeit bedeutet nicht Gottes Ewigkeit, die ist recht anders. Es bedeutet, daß unsre Liebe nicht nur irdisch, sondern auch himmlisch geschlossen und verankert ist. Das glaube ich. Du!! Meine liebe, liebste [Hilde]!! [Hilde]lieb!!! Herzlieb!!!!!!!!!!!!!
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Roland Nordhoff
Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946