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[OBF-411005-001-01]
Briefkorpus

Sonntag, den 5. Oktober 1941

Mein liebes, teures Herz! Geliebtes Weib! Meine [Hilde]!

Der ganze Sonntagnachmittag liegt vor mir – offen stehen mir Tor und Tür zur Freizeit, offen zu ganz beliebiger Verwendung. (Kamerad K. ist Schreiber vom Dienst) Ach Geliebte! Es ist eine falsche Freizeit – Freizeit in der Gefangenschaft. Nie kann ich das vergessen! Freizeit ist nur dort und nur dann, wenn ich zu meinem Herzlieb kann. Und nur dann kann ich recht feiern und mich freuen! Und so wird mir schmerzlich bewußt, was ich lassen mußte, wovon ich micht trennen mußte auf unbestimmte Zeit. Herzlieb, es ist Dir ebenso gegangen, Du sagst es in Deinem lieben Boten. So habe ich nun schon manchen Sonntag gesessen: daß ich allein war und Dich missen mußte – aber die Hoffnung auf das Wiedersehen war doch bestimmter, wir konnten noch rechnen damals.

Ach Geliebte, Herzliebes! Wenn wir es in dieser Zeit nicht schon gelernt und geübt hätten, all unser Fühlen und Denken zu zähmen und zu zügeln und zu dämpfen, er hätte ganz laut werden müssen, der Abschiedsschmerz.

Es war gut, daß ich gleich viel Arbeit vorfand, daß ich gar nicht Zeit fand zu grübeln – Du! Du!!! Geliebtes Weib! Ich habe Dich sooo unendlich lieb! Das Allerliebste mußte ich lassen! Und der Gedanke an Dich, er stellt mir immer vor, was ich nun entbehren muß wieder auf lange Zeit. Da liegen nun Meer und Stadt und Bucht in ihrer Schönheit hingebreitet, die Herbstsonne darüber – was wiegt alt diese Schönheit gegenüber der Heimat des Herzens, die ich bei Dir fand, und die nun bei Dir ist mein ganzes Leben?

Herzlieb! Die Trennung ist das Opfer, das wir dieser Zeit bringen müssen. Sie bedeutet uns nicht eine angenehme Abwechslunge, Ferien der Ehe – oh nein, sie ist uns ein gar hartes Los! Mit Dir leben! Unser Leben beginnen! Das ist unser Wunsch, unsere Sehnsucht.

Manchmal könnte ich unzufrieden sein mit mir, wenn ich an unsre vergangenen Tage denke: Die Erinnerung will gar nichts Besonderes finden. Aber wir waren doch wie sonst so glücklich miteinander, waren noch glücklicher als sonst. Ach Herzlieb! Ich war ganz ganz bei Dir mit allen Sinnen, mit allen Fasern meines Herzens, ich sah und dachte und spürte nur Dich, ich war ganz von Dir gefangen – ich habe mit Dir gelebt diese Tage, mit Dir gelebt!!! Ich war ganz bei Dir!

Ach Geliebte – und wäre so gern gebleiben – weißt Du, wie gerne? – um mit Dir nach all dem Feiern auch die Stille und das Warten zu erleben, so sanft und leis, so in friedlicher Liebe – oh Du!! oh Du!!! Die Unrast vor dem Abschied war es, die uns trieb, jeden Tag noch etwas zu unternehmen. Am liebsten wär ich doch ganz allein mit Dir zu Hause geblieben, hätte meine Augen in die Deinen gesenkt, meine Wange an die Deine gelehnt, und Herz an Herz mich sattgetrunken an Deinem Blick, an Deinem Wesen, an Deiner Liebe – – – aber dann wäre er erwacht und aufgestanden, der Schmerz, groß und wild, ich weiß es. Das Rinnen der Stunden und das Ticken der Uhr, es hätte uns gequält.

Herzlieb! Wir brauchen unsre Liebe nicht am Abschiedsschmerz zu messen und an der Zahl der Abschiedstränen. Wir sind ihrer ganz gewiß. Sie brennt ganz heiß in unseren Herzen. Aus Gottes Hand nehmen wir sie. Ihm haben wir sie anbefohlen. Und nun sind wir guter Zuversicht, daß sie uns bleibt, daß sie diese böse Zeit überdauert und bestimmt ist, Frucht zu tragen, geliebtes Weib!

Das soll auch unser bester Trost sein und Brücke in die Zukunft. So weit ich auch entfernt bin von [zu] Hause, so allein ich auch stehe – ich bin nicht allein, ich gehöre zu Dir, ich muß Dir bleiben, muß Dir wiederkehren, ich bin Dein Mannerli, Deine Heimat. Und so bist auch Du nicht für Dich und stehst nicht allein und bist nicht frei in Deinen Entschlüssen – Du gehörst zu mir, und bewahrst mir die Heimat. Mit mir trägst Du den gleichen Wunsch, das gleiche Hoffen, das gleiche Planen, Du allein mit mir in der großen, weiten Welt. Sie tragen uns vorwärts, sie geben uns Mut und Kraft, auszuharren und Widerständen zu trotzen.

Drei, nein vier liebe Boten auf einmal sind heute von Dir gekommen, nachdem die Post zwei Tage nichts für mich brachte. Für all Dein Gedenken in Liebe sei recht sehr bedankt. Wirst nun heute auch Gewißheit haben, daß ich gut hier angekommen bin. Werd ich doch daran erinnert zu berichten, daß [d]ie Wegzehrung, Dein letzter Liebesdienst, ganz fein gelangt hat und vortrefflich gemündet. Den Käse und einen halben Kuchen habe ich noch ganz mitgebracht, auch die Eier. Sie aufzuzehren bis zum letzten Happen war so schmerzlich, weil ich dabei immer so sehr an Dich erinnert wurde und die liebe Heimat. Aber viel liebere Pfänder haben wir ja schon getauscht – das Ringlein am Finger, es trägt Deinen Namen; und Deine Bilder sind mit mir, bald werden die neuen kommen, ich freue mich darauf; und täglich erreichen mich Deine lieben Boten. Aber sie alle sind ja nur Zeichen der glückhaften Gewißheit, [da]ß Du mein bist. Und ihr lebendigster Zeuge ist mein unruhiges Herz, das nur Dir schlägt und zu Dir drängt und nicht eher Ruhe findet, als bis es bei Dir ist. Hast mich überallhin mitgenommen, ins Gotteshaus, auf den Spaziergang, nach Kamenz. Ich bin Dir so dankbar.

Auch ich war sehr müde abends in der vergangenen Woche und habe mich meist zeitaig zum Schlafen niedergelegt, weil auch unsre Lampe ein so mieses, unmögliches Licht verbreitet.

Schnell ist die Woche vergangen über der Arbeit. Auch die neue Woche bringt deren noch genug. Der Urlauberstrom fließt ungehemmt und der Gedanke hat etwas Tröstliches, dass jeden Tag zwei Züge auslaufen mit Heimkehrern. Einmal werde auch ich wieder unter ihnen sein dürfen.

Der Führer hat sich wieder einmal vernehmen lassen nach langer Zeit. Ich habe die Rede nicht gehört, nur nachgelesen. Man sucht sofort nach nNeuen, nach Zeichen, die man deuten könnte, nach Worten, auf die man den Mann festlegen möchte. Aber es ist auch ein Mensch. Der Ablauf dieses Krieges ist den menschlichen Händen entgriffen. Nun tobt der Krieg, – Gottesgericht. Möchten wir ihn siegreich beenden und möge dieser Sieg unserem Volke wirklich zum Segen gereichen! Möchten wir alle an diesen Segnungen teilhaben dürfen und freudig bejahend am Werke des Friedens mitarbeiten.


Es freut mich, von Siegfried zu hören. Über den russischen Winter und wie ihn die Masse unsrer Soldaten tief im unwirklichen Rußland durchstehen soll, darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Meine Muttchen kann ich gerne entbehren. "Was sagst du dazu, Herzlieb?"

Deine Frage meint, dass dazu etwas zu sagen ist. Der Bruder Siegfried verabredet sich mit der Schwägerin und lädt sie ein. [siehe Ausschnitt aus dem Brief]

Das geht nach meiner Auffassung nicht anders, als dass der Bruder davon Kenntnis erhält, ja? — Ordnung muß sein auch unter Brüdern. Verstehst Du Dein Mannerli in diesem Urteil? Ich kann nicht anders urteilen, als ich selbst handeln würde und empfinde. Aber wollen wir darüber unsre Gemüter sich nicht erhitzen lassen. Und wenn der Bruder auf Urlaub daheim weilt, dann meldest Du Deinen Besuch an als Vertreterin der Familie [Roland Nordhoff], die damit dem Schwager Ehre und Teilnahme bekunden will. Weißt, Herzlieb, die Welt ringsher schaut uns noch gar nicht als das, was wir sind, als eines, ein unzertrennliches Paar. Man hat uns noch nicht oft genug beieinander gesehen, und wie eng verschlungen unsre Herzen sind, das wird sie ja nie zu sehen bekommen. Die Welt ringsher achtet auch nicht die Hoheit eines Bundes und verliert mehr und mehr den Sinn für den schicklichen Abstand und wird immer zudringlicher. Wenn sie wieder einmal gesunden will, wird sie diese Grenzen und Abstände wiedergewinnen müssen, wird sie neue gesellschaftliche Formen bilden und entwickeln müssen, wie sie in allen Blütezeiten der Kultur vorhanden waren. Formlos ist unsre Zeit. Alles schwankt, alles ist im Fließen, nichts, was nicht angezweifelt würde von des Gedankens Blässe [sic], wieviel Menschen haben noch einen festen Boden unter den Füßen? Und was macht die Welt so schwanken und taumeln, als [o]b sie trunken wäre? Den meisten kommt es wohl gar nicht zum Bewußtsein — menschlicher Hochmut, Schranken– und Hemmungslosigkeit, Formlosigkeit, Eigenwilligkeit, allgemeines Durcheinander, Suchen und Tasten wollen in vielen Menschen sich auflehnen gegen alte Ordnungen. Sollen wir uns an die alten Ordnungen halten? Ist das nicht rückständig? Ist es nicht den Jungen gemäß, dass sie nach Neuen suchen? Freilich, das wird immer ein Vorrecht der jungen Menschen bleiben. Aber es gibt nichts Neues, dass nicht auf dem Alten fußte. Wer das leugnet, verleugnet seimn eigenes Herkommen. Und alles gute Neue muß eine innere Berechtigung haben — und es muß wirklich etwas Neues sein, nicht nur Altes unter Neuem [sic] Firmenschild. Für diese Originalität und Ehrlichkeit ist der Welt ebenfalls der Sinn weithin verloren gegangen. Ich leide unter der Formlosigkeit unsrer Zeit.

Der Übel größtes ist, dass die meisten Menschen kein Verhältnis zu Gott haben, dass sie ihn nicht erkennen, den Jesus Christus uns kündete. Dass sie nicht selber schlicht und unvoreingenommen darüber nachlesen und sich ein Urteil bilden, dass sie sich stattdessen lieber in langatmigen Reden Meinungen einreden lassen, dass sie über allem Kleinem, Unstimmigen, Nebensächlichen die große Wahrheit und Heilsbotschaft nicht erkennen, dass sie mit den Mängeln der kirchlichen Organisation und den menschlichen Schwächen der Geistlichen, den Dienern am Werke, das Werk selber beiseiteschieben. — Herzlieb, wohin habe ich mich denn verloren? Philosophenmannerli — Du verstehst mich — hat alles mit dem lieben Bruder nichts mehr zu tun. Wie ich zu solchen Behauptungen komme?

Wir Ich hatten gestern ein kleines Gespräch mit dem Hauptfeldwebel über die Pfarrer, in de[m] so herzzerreißende Mißverständnisse anklangen. Zum anderen gibt es das Leben hier einen erschütternden Anschauungsunterrricht von der Haltlosigkeit unsrer Zeit.

Aber das alles soll uns nicht wanken machen. Gott schenke uns ein starkes, tapferes Herze!

Du gehst mit mir und suchst mit mir den rechten Weg und vertraust mir, dass ich wachsam und aufgeschlossen für alles Rechte Ausschau halte. Kein größeres Glück, als dein ganzes Vertrauen zu haben!

Geliebtes Weib! Nun brennt schon die Lampe. Den ganzen N[ach]mittag habe ich Dein gedacht und habe darüber doch manchmal ganz vergessen können, daß ich räumlich so fern dir bin. Und das was doch das schönste an diesem Tage, Herzlieb! Ich gehöre so ganz, ganz zu Dir! Ich habe so ganz mich an Dich verloren! Ich lebe mir Dir! Und Du lebst mit mir! Du bist ganz fest eingeschlossen und einbezogen in all mein Tun und Denken und Handeln. Oh Geliebte! Ich gedenke voll Glück und Dankbarkeit der Stunden, da uns der Mund überging, weil uns das Herz so voll so war — Gedanken könnten uns nimmermehr trennen, weil unsre Herzen gleichgestimmt zusammenschlagen! Dessen haben mich die Tage unsres gemeinsamen Lebens nur gewisser gemacht.

Du liebst mich so innig und geheimnistief, so wie ich Dich liebe. Du bist glücklich in meiner Liebe so wie ich in der Deinen. Du hältst mich so fest umfangen, wie ich Dich. Du findest an mir den Halt, den ich bei Dir finde.

Soo glückliche Menschenkinder sind wir darum, so unzertrennlich, so unverlierbar einander, so ganz aneinandergegeben. So wie mich drängt es Dich, ganz Dich zu verschenken. So ganz genug [si]nd wir einander.

Ich kann nicht denken, dass es jemals anders würde. So reich an Erleben und Aufgaben schwebt uns unser künftiges Leben vor, dass wir eher uns um die Kürze dieses Lebens als nun die Langeweile Sorge machen müßten. Und das, weil wir mit Herz und Sinnen einander verbunden sind.

Gott sei unserem Bunde gnädig und halte uns demütig im Glücke!

Herzlieb! Für heute drücke ich deine lieben Hände ganz fest. Ach Du! Hab ich Dich denn auch jeden Augenblick recht lieb gehabt in unseren Tagen? Oh Geliebte, ja! ja!!! Ich war soo sehr glücklich und beseligt von deiner Nähe, jede Stunde, jeden Augenblick —oh sooo glücklich! Du weißt es!

Ich liebe Dich! Ich liebe Dich herzinniglich! Ich will Dich ganz einnehmen und will ganz eingenommen sein. Oh Herzlieb! Dir ganz nahe sein — soviel Glück und Seligkeit.

Gott behüte Dich auf allen Wegen!

Ich bleibe Dein immerdar,

Dein [Roland]!

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Autor Roland Nordhoff
Korrespondenz Oberfrohna
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Roland Nordhoff

Foto von Roland Nordhoff. Nahaufnahme, Person sitzend in einem Fensterrahmen.
Ba-OBF K01.Ff2_.A39, Roland Nordhoff, 1940, wahrscheinlich Bülk, Fotograf unbekannt, Ausschnitt.

 

Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946