14.6.38
Lichtenhain am 15.6.38
Liebes Fräulein [Laube]!
Zum Dank schreibe ich Ihnen, was ich am 15. Mai in mein Tagebuch schrieb.— „Sagen Sie, haben Sie im Leben auch einmal einen Menschen so recht von Herzen lieb gehabt?” So fragten Sie damals. Diese Frage hat mich erschüttert, hat an mein Herz gerührt. Das hat mich in meinem Leben noch niemand gefragt, wer sollte mich noch einmal so fragen? Wen wird es drängen, und wer wird es wagen, so zu fragen? Wem gibt mein Gesicht und mein Wesen auch einen Anreiz dazu! Es ist eine einfache, kindliche Frage, und sie zu stellen, dazu gehört ein tiefes, kindliches Gemüt. Sie konnten so fragen im eigenen Schmerz und vielleicht, weil Sie mich durchschauten.
[*] Ich ging zur Stadt hinaus
und zog nun wieder einsam meine Straße.
Ich zog schon oft und ließ zurück.
Das Ziehen ist mein Los,
macht hart und bitter, heimat-, liebelos.
Und härter ward der Blick
und Bitterkeit durchzog die Seele.
_____
Da folgt ein Menschenkind und ruft und winkt:
Du grauer Wandrer, bleib oder nimm mich mit!
Ich kann nicht sehen, wie du bitter scheidest,
du darfst nicht glauben, daß du hier umsonst gewesen[,]
mich eine sollst du dankbar finden,
nimm meinen Dank: mein Herz, nimm mich so ganz.
Du bist das Glück, mein Glück,
ich will dich halten oder will dir folgen — nimm mich mit!
_____
Der Wandrer hält und steht — und weint.
Ein Mensch, der mit mir fühlt —
ein Mensch, der mir gefolgt, um mich zu halten —
der nicht so leicht verschmerzt, vergißt —
den Schmerz und Liebe treibt, das Schicksal aufzuhalten? —
Der Wandrer weint von übervollem Glück.
[**] Sie dürfen diese Zeilen nicht Wort für Wort auf sich und mich beziehen. Sie sind schon Dichtung und Wahrheit und sind der Niederschlag meiner Empfindungen damals:
Bitterkeit: herausgerissen, aus der Arbeit,
versetzt an eine weniger gute Stelle,
weggerissen von allen Bekannten,
vorbei, umsonst.
Das Gefühl des Glücks: eine treue Seele, die nicht
verschmerzen kann, die dieses
Schicksal aufhalten will.
Am Sonnabend ist mein Dienst um 11 Uhr beendet. Ich kann ½ 1 in Rathen sein. 1420 [Uhr] fährt Ihr Schiff. Nehmen Sie erst in Ruhe Ihre Mahlzeit ein, und dann können wir uns an der Anlegestelle treffen, wenn es Ihnen möglich ist.
Meine Zeit ist heute knapp. ½ 2 [Uhr] muß ich zu einem Luftschutzkursus nach Bad Schandau fahren. Ich lasse einige Fragen unbeantwortet. Nochmal gute, frohe Fahrt
und herzliche Grüße
von Ihrem [Roland Nordhoff].
[* = hiernach in einer mehr formellen Handschift, siehe Abbildung]
[** = hiernach wieder kursiv geschrieben]
Roland Nordhoff
Roland Nordhoff wurde 1907 in eine bürgerliche Familie in einem ländlichen Dorf im östlichen Sachsen, Kamenz, hineingeboren. Nachdem er ein Musikstudium aufgegeben hatte, arbeitete er als Dorflehrer in Oberfrohna, nahe Chemnitz. Im Frühjahr 1938 wurde er nach Lichtenhain in Sachsen versetzt
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946
Schrift
Ist dieser Brief das einzige Beispiel für einen Wechsel im Schriftbild oder kommt das öfter vor? Vielleicht immer bei Zitaten oder Gedichten?