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[NGM-400610-004-01]
Briefkorpus

[*] Hamburg-Bergedorf, den 10. Juni 1940.

Mein lieber [Heinrich]!

Da ich heute morgen einmal wieder so entsetzlich viel Zeit habe – wer weiss, wie es heute nachmittag wird – will ich Dir gleich einmal schreiben. Eigentlich gibt es ja gar nichts zu schreiben, wo wir erst vor 15 Stunden noch zusammen waren, dazwischen liegt die Nacht, da hat man also noch nicht viel erlebt.

Als ich gestern abend nach Hause fuhr, strömte es die Wentorferstrasse hinunter, es waren wohl alles Soldatenbesucher. An der Kurve in Wentorf war eine grosse Menschenansammlung, ist dort wohl Autobushaltestelle? Bergunter ging es wie der Wind. Mir fiel plötzlich ein, dass ich auch über den Gojenberg fahren könnte, und so bin ich im letzten Moment links abgebogen. Aber dort war ein holperiges Pflaster, und mein Rad klapperte entsetzlich. Ein kleines Stück bin ich dann auf die Brunnenstrasse zu geschoben, ich hatte genug zu tun, dass mir mein Rad nicht weglief. Unterwegs hat sich nichts mehr ereignet. Tante Bertha stand am Fenster. Sie hat sich wohl ihr Teil gedacht, als sie mich vorbeifahren sah. In Curslack und Neuengamme strömte schon alles zum Kino. Unsere Haustür war auch abgeschlossen. Ich dachte mir wohl, dass sie alle im Kino seien. Ich habe dann schnell ein paar Scheiben gegessen und bin auch noch rüber gegangen. Es war natürlich schon übervoll, links an der Seite entdeckte ich aber noch einen Stuhl, der frei war, schön sehen konnte ich dort zwar nicht, aber ich hatte doch wenigstens einen Platz. Papa und Mutti sassen gleich hinten in der Mitte, ich habe ihnen den Schlüssel gegeben, sie waren erstaunt, dass ich schon wieder da war. Zuerst haben wir dann den Film „Unsterbliche Walzer“ gesehen. Gerade als ich mich hinsetzte, wurde es dunkel. Mit einem herrlichen Walzer in Barockräumen, die Damen in langen weiten, meistens weissen Kleidern, begann es. Strauss selbst dirigierte. Wir haben dann sehr viele schöne Walzer zu hören bekommen. Das Stück handelte dann vom Leben Strauss´. Wie er selbst mit seinem Leben unzufrieden war, und nun seinen Söhnen verbieten wollte, Musiker zu werden, obwohl das Musikalische so sehr in ihnen steckte. Gegen den Willen des Vaters haben sie dann aber heimlich doch Musik gemacht. Z. Teil lernten sie Geige bei einem Freund Strauss´. In der Schule musizierte der Johann mit seinen Mitschülern. Dabei wurde er von dem Lehrer ertappt. Dieser beleidigte dann den Vater in seinen Reden. Johann wurde frech, und er flog aus der Schule. Der Vater, der nicht gewusst hatte, dass der Sohn geflogen war, weil er ihn verteidigt hatte, sondern glaubte, er sei der Musik wegen rausgeschmissen und frech geworden, trennte sich von seiner Familie. Plötzlich sah er dann, dass Johann Strauss (Sohn) ein Konzert gab. Er wollte nicht hin, aber sein Freund brachte ihn doch schliesslich mit. Es wurde ein grosser Erfolg. Der zweite Sohn, der dem Willen des Vaters gefolgt war, und Ingenieur geworden war, war aber nicht glücklich in seinem Beruf und immer wieder schrieb er Noten anstatt Zeichnungen. Seine Frau, die Tochter des Ingenierus [sic], bei dem er angestellt, fand dann zerrissene Notenblätter in seiner Tasche und zeigte sie voller Bestürzung ihrem Schwager Johann. Auf einem Sylvester-Ball spielte dann Johann diesen Walzer auf, und Josef wurde als der Komponist gefeiert und musste selbst dirigieren. Dann wurde er auch Musiker. Der Vater Johann Strauss war inzwischen gestorben, beide Söhne bekamen die Nachricht, als sie musizierten, sie gingen an sein Totenbett. Vor dem Fenster zog eine grosse Kapelle vorbei und spielte einen Marsch von Strauss. Johann Strauss wurde der berühmteste von den Söhnen, während die anderen – der jüngste Eduard war inzwischen auch Musiker geworden, immer nur Stellvertreter Posten annehmen mussten. Dies gefiel den beiden auf nicht mehr, und sie wollten sich trennen. Johann wollte eine Konzertreise nach England und Amerika antreten und wollte dann dort bleiben. Der Freund des Vaters hat dies dann aber verhindert und hat sie wieder zueinander geführt. Fortan wollten sie alle nebeneinander arbeiten und den Vater als den grossen Genius feiern. Das Schönste waren jedoch die Musik. – Anschliessend kam dann die Wochenschau. Die Verteidigung in Narvik, die Einnahme von Antwerpen, Loewen und Brüssel. Es ist fürchterlich, das anzusehen. Was dort alles zerstört wird! – Es war gestern abend einmal wieder eine unerträgliche Hitze im Saal bei Timmann. Als die Wochenschau zu Ende war, löste sich alles in Wohlgefallen auf. Es war auch nicht mehr zum Aushalten. Tran und Helle, sowie den Kulturfilm haben wir gar nicht mehr zu sehen bekommen. Günther war im Haus ganz ärgerlich. Tran und Helle ist für ihn immer die Hauptsache.

Als ich mich gestern abend aus meiner Ecke aus dem Saal gedrängt hatte und nach Hause kam, waren Mutti und Papa schon im Hause. Papa hörte natürlich schon wieder Radio. Ich musste dann erzählen. Was ich nun in erster Linie fragen sollte, wie es mit der Wohnung ist, da konnte ich ja nun wieder sagen, dass Du an die Hauptdienststelle geschrieben hattest. Papa wollte nun wissen, ob Du auch Allermöhe/Schleuse darauf geschrieben hättest. Da war er schon fast wieder ärgerlich, halb hätte ich nun wieder bloss gefragt. Ich erzählte dann, dass Du nach der Antragstellung noch bei U. gewesen seist, und der Dir gesagt hätte, dass er die Wohnung sich ansehen würde. Papa wird nun wohl mit U. bzw. W. telefonieren.

Und wie ist es Dir nun bei Deinem Stubendienst ergangen? Hast Du wieder ein Kreuz auf die Stirn gekriegt, oder hat alles geklappt? Hast Du Deinen Kaffeepott auch rechtzeitig oben gehabt? Heute ist es ja nun nicht so heiss, da braucht Ihr ja nicht so sehr zu schwitzen. Habt Ihr denn schon etwas von dem angekündigten schärferen Dienst gehört?merkt?

Mein Vetter aus Salzhausen schrieb, dass die Lüneburger vorletzte Nacht ausgerückt seien. M. und M. werden aber wohl noch nicht dabei gewesen sein, nicht!? Die Vorigen von Lüneburg waren als Luftlandetruppen mit nach Rotterdam und Haag gekommen, sie hatten schwere Verluste gehabt.

Dort in der Heide ist fast überall die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen.

Inzwischen habe ich nun etwas getan. Durch Sondermeldung ist bekannt gegeben, dass der Kampf um Narvik siegreich beendet ist. Das hätte ich nicht erwartet, es hiess doch immer, wir müssten uns dort zurückziehen. – Einen Wehrmachtsbericht von heute lege ich bei, Du wirst ihn aber wohl schon gelesen haben.

Eben war ich unten in der Spedition. Rolf erzählte mir, dass Karl R. Dich gestern auch besuchen wollte, er hätte Dich aber nicht gefunden. Um ½ 5 Uhr wäre er ungefähr dort gewesen. A. hätte er auch noch gesehen. – Wenn es angebracht ist, dann bestelle man einen schönen Gruss an Deine Stubenkameraden.

Herzliche Grüße

Deine [Hannelore]

Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:

Unsere auf einer Breite von rund 350 km eingeleiteten Operationen nehmen in Richtung auf die untere Seine und Marne sowie in der Champagne den geplanten und erwarteten Verlauf. Grosse Erfolg [sic] sind schon errungen, grössere bahnen sich an. Alle feindlichen Gegenstösse, auch dort, wo sie mit Panzerkampfwagen unternommen wurden, sind gescheitert. An mehreren Stellen ist der Kampf in Verfolgung übergegangen. Deutsche Fliegerverbände aller Waffen unterstützten das Vorgehen des Heeres mit starken Kräften am Unterlauf der Seine und in der Champagne. Um Reims wurden Stabsquartiere, Granatenlager, Truppenansammlungen, Feldstellungen, Befestigungen, Batterien- und Marschkolonnen, an der unteren Seine Verkehrsanlagen, Strassen sowie rückläufige Truppenbewegungen mit grossem Erfolg angegriffen. Die Hafen- und Kai-Anlagen von Cherbourg und Le Havre wurden mit Bomben aller Kaliber belegt und Schiffe in diesen Häfen sowie auf der unteren Seine getroffen, zahlreiche durch Bombentreffer beschädigt, ein Transporter von 5000 to. in Brand gesetzt und vernichtet.

Nördlich Harstad erhielt ein 8000 to. Handelsschiff einen schweren Bombentreffer, auf den eine starke Explosition folgte.

Ein von Fernfahrt zurückgekehrtes U-Boot unter dem Kommando von Kapitänleutnant ……. meldet die Versenkung von 43000 Br. Reg. To. feindlichen Schiffsraums.

Feindliche Flugzeuge flogen wiederum während der Nacht in Nord- und Westdeutschland ein und verursachten durch planlose Bombenabwürfe an einzelnen Stellen Flur- und Gebäudeschaden. Ein feindliches Flugzeug wurde durch Flak abgeschossen.

Die Gesamtverluste des Gegners in der Luft betrugen gestern 91 Flugzeuge, davon wurden im Luftkampf 68, durch Flak 14 abgeschossen, der Rest am Boden zerstört. 5 eigene Flugzeuge werden vermisst.

–.–.–.–.–.–.–.–.–

10. Juni 1940.

[* = Der gesamte Brieftext einschließlich des Wehrmachtsberichts ist mit der Schreibmaschine getippt, nur Gruß und Unterschrift sind handschriftlich hinzugefügt]

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Autor Hannelore Wilmers
Korrespondenz Neuengamme
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Über den Autor

Hannelore Wilmers

Abbildung von einem Haushaltspaß von Hannelore Wilmers, grüner Karton mit Schreibmaschinenschrift. andes- und Hauptwirtschaftsamt Hamburg.
Ba-NGM K02.Pf1_.A14, Haushaltspaß von Hannelore Wilmers, 1944, Hamburg, herausgegeben vom Landes- und Hauptwirtschaftsamt Hamburg.

 

 

Hannelore Wilmers, geb. Baumann, wurde 1917 geboren, sie lebte bis 1999. Sie war Tochter eines Lehrers und seiner Frau in Neuengamme. Ihr jüngerer Bruder war bei der SS. Hannelore Wilmers besuchte das Luisen-Gymnasium in Hamburg-Bergedorf. Dann arbeitete sie in einer Motorenfabrik als

Über die Korrespondenz

Neuengamme

Abbildung mehrerer Bündel Briefe aus dem Konvolut Neuengamme, von Kordeln zusammengehalten, in einem Schuhkarton durcheinander gewürfelt.

Die Briefe von Hannelore und Heinrich Wilmers befinden sich im Archiv des Kultur- und Geschichtskontors in Hamburg-Bergedorf. Über 1600 Briefe und Karten wurden von den Autoren nummeriert, sortiert und sorgfältig zu je 100 Stück gebündelt aufbewahrt. Die von Hannelore Wilmers verwahrte Feldpost