Nr. 457
Hbg.-Neuengamme, d. 29.12.42.
Mein lieber [Heinrich]!
Heute abend will ich Dir als Erstes einen Brief schreiben, u. dann noch etwas lesen. Puppe ist gerade zu Bett gekommen, es ist ½ 9 Uhr. Heute morgen war ich erst um 8 Uhr aufgewacht, von 4 – 6 hatte ich wach gelegen, da schlief Puppe um 8 Uhr immer noch, u. ich dachte, was sie wohl nun für einen Hunger hat, aber es war wieder dasselbe wie immer. Es ist geradezu furchtbar. Nach vielleicht 2 Min. Trinken ist es aus. Und dann ist nichts mit ihr anzufangen, sie schreit in einem fort u. fängt nicht wieder an. So geht es Mahlzeit für Mahlzeit, mal etwas besser, dafür dann ein anderes Mal fast nichts. Ich habe Dir ja häufig darüber geklagt u. hoffte dann, daß es besser werden sollte, denn früher war es meistens so u. umgekehrt ebenfalls. Aber diesmal will u. will es sich nicht geben. Dabei kann sie feste schlafen, u. wenn sie wach ist, lacht u. jauchzt sie u. ist wild, wer weiß wie. Aber so bald das Trinken beginnt, ist es aus mit ihr. Du müßtest das nur einmal miterleben! Es ist zum Wildwerden. Wie oft habe ich ihr schon eins hintendrauf gegeben, aber dann wird das Weinen nur schlimmer. – Gestern war ich nun wieder in Hbg. zum Arzt. Dr. F. war selbst da. Nachdem ich er das Knie u. die Röntgenaufnahmen gesehen hatte, u. ich ihm den Verlauf der Krankheit erzählt hatte, legte er seine Hände auf meine Schultern u. sah mir in die Augen u. stellte mir dann verschiedene Fragen, bei denen sich mein Gesicht immer mehr verfärbte. Es waren aber auch Fragen, die ich vor lauter Erregung gar nicht mehr genau beantworten konnte. Z. B. ob ich starken Geschlechtstrieb hätte, ob ich Befriedigung fände, ob ich geschlechtlich kühl wäre, ob uns die Entbehrung viel ausmacht, u.s.w. u.s.w. Ich hätte versinken mögen. Einem wildfremden Mann das alles zu sagen. Zum Schluß sagte er dann, er fragt nicht aus Neugierde, sondern um sich ein Gesamtbild machen zu können. Er führt jedenfalls meine Kniegeschichte darauf zurück, daß meine Regel früher so unregelmäßig war u. jetzt noch nicht wieder eingetreten ist. Auch daß ich während der Schwangerschaft keine Beschwerden davon hatte, während es doch vorher nie ganz weg gewesen ist, ist ein Zeichen dafür. Die Sache muß also unbedingt in Ordnung gebracht werden, um ein Wiederauftreten zu verhüten, aber im Augenblick kann nicht damit begonnen werden, weil ich noch stille. Die Geschwulst muß sowieso unabhängig davon zurückgebracht werden durch Stillegung des Gelenks u. Kurzwellenbestrahlung. Z. hatte mir ja auch schon mal Tabletten für den Eierstock gegeben, ob damit vielleicht Puppes schlechtes Trinken doch zusammenhängt, er hat es damals ja abgelehnt, aber hiernach kann man es doch wieder annehmen. Ich war früher ja auch schon mal wegen der Unregelmäßigkeiten in ärztlicher Behandlung, aber vor der Schwangerschaft kam es ja nicht mehr in Ordnung, u. dann durfte ich nicht weiter einnehmen. Ehe das aber nun nicht vollkommen im Takt ist, darf ich kein Baby wieder bekommen, sonst geht dieselbe Geschichte wohl wieder los. – Deine Stiefel haben mir gestern gut getan, es war kalt, u. sie haben keinerlei Schmerzen verursacht. Ich freue mich sehr dazu. – Grete u. Rudi sind gestern nach Oldendorf zu Gretes Verwandten gefahren, anschließend über Neujahr wollen sie zu Rudis Eltern. – Wir haben augenblicklich viele Mäuse, heute abend läuft eine in der großen Falle, aber keiner mag sie raus tun. Wie lange sie da wohl noch laufen muß? Gestern abend hat mich eine fürchterlich erschrocken. Sie lief auf dem Herd, saß hinterm Topf, Mutti rückte den Topf beiseite, da saß sie unterm Feuerring; Mutti wollte sie dann mit dem Feuerhaken tot schlagen, ließ aber den Haken fallen, u. die Maus war entwischt. – Gestern morgen bekam ich Deinen Brief Nr. 416 v. 24.12. Heute erwarte ich den vom 1. Weihnachtstag, aber [*] er kam noch nicht. – Gisela weint so sehr oben. Was sie wohl wieder hat? Ich muß wohl mal rauf, kann dann man auch gleich zu Bett gehen. Mutti sagt gerade, die Maus ist schon wieder raus aus der Falle.
Sei herzlichst u. lieb gegrüßt u. geküßt
von Deiner [Hannelore]
[* = Ab hier ist der Brieftext auf dem linken Seitenrand des Briefbogens von oben nach unten geschrieben, zunächst auf der Rückseite, der Gruß dann auf der Vorderseite]
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Hannelore Wilmers
Hannelore Wilmers, geb. Baumann, wurde 1917 geboren, sie lebte bis 1999. Sie war Tochter eines Lehrers und seiner Frau in Neuengamme. Ihr jüngerer Bruder war bei der SS. Hannelore Wilmers besuchte das Luisen-Gymnasium in Hamburg-Bergedorf. Dann arbeitete sie in einer Motorenfabrik als
Neuengamme
Die Briefe von Hannelore und Heinrich Wilmers befinden sich im Archiv des Kultur- und Geschichtskontors in Hamburg-Bergedorf. Über 1600 Briefe und Karten wurden von den Autoren nummeriert, sortiert und sorgfältig zu je 100 Stück gebündelt aufbewahrt. Die von Hannelore Wilmers verwahrte Feldpost