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[OBF-411013-002-01]
Briefkorpus

Montag, am 13. Oktober 1941.

Herzallerliebster mein! Du lieber, liebster [Roland]!

Es ist Vormittag, ich bin allein. Und ich muß mir jetzt eine Stunde Zeit gönnen, bei Dir zu sein, Du! Du klagtest in zwei Deiner Boten über die Formlosigkeit unsrer Zeit. Ich habe Dich verstanden, Herzlieb. Ich muß auch alle Deine Betrachtungen und Begründungen gelten lassen, weil Du recht hast. Und es ist wahrlich erschreckend, darüber nachzudenken, wie das Ganze noch einmal enden wird. Aber – wieviele Menschen werden es sein, unter uns, neben uns, die sich Gedanken dazu machen? – Werden den Männern, die den Mut fassen, eine Bresche zu schlagen in dies Durcheinander, nicht die Münder verboten, von einer gewissen Schicht, die allein sich berufen fühlt das Volk politisch wie moralisch zu führen? Es gab wohl in jedem Zeitalter Stufen, wo ein Volk festzufahren drohte, wo alles zu vergehen, zu zerfließen drohte in ein Nichts. Und doch gab es einen Moment, da einer mutig das Steuer an sich riß.

Schicksal? Ich glaube, daß die Welt nach einem göttlichen Plan läuft. Daß alles, aber auch alles darin einbezogen ist. Darum dürfen gläubige Menschen nichts fürchten! Das enthebt sie aber nicht der Pflicht, nach besten Kräften mitzuhelfen, drohendes Unheil abzuwenden. Aber wie kann man gegen die Masse, die blind ist und nicht zu sehen scheint, daß sie einmal dem Abgrund zutreibt, ankommen?

Im Kleinen muß man beginnen. Charakter und Persönlichkeit, diese beiden sind Helfer und Stützen.

In der Ehe angefangen, unbeirrt um die Meinung andrer seinen Weg gehen. Den Mitmenschen Beispiel zu sein, [in] ihnen den Wunsch zu wecken, uns es gleich zu tun. Das ist wohl eine große Kunst, aber wo zwei sind, die ganz in Liebe und Verstehen sich fanden, denen der Bund der Ehe, seine Hoheit und Grenzen heilig und ihr Teuerstes sind, denen soll das ein Leichtes sein. Einer der die Grenzen und die Hoheit des Bundes der Ehe nicht achtet und anerkennt, kann auch nie deren Glück und Erfüllung erleben. Form ist Gefäß. Und wo ich Erfüllung sehen will, da brauche ich ein Gefäß. Der Mensch der Grenzen und Bindungen und Form bejaht, ist in Wirklichkeit der stärkere.

Du sagst ganz recht: wir Menschen können nur Meister sein, wenn wir uns Schranken setzen. Zu dieser Einsicht kann der Hochmütige nicht gelangen.

Und so meine ich, daß man seinem eigenen, persönlichen Leben diese eigene besondere Note geben muß, die man auch im Großen verfolgt zu sehen wünscht. Daß man auch einen Kreißs gGleichgesinnter um sich bildet, an deren Leben man sein eigenes noch ausrichtet, vervollkommnet. Und schönste, größte Aufgabe ist es dann, die Kinder, die diesem Bunde angehören auf den Weg zu geleiten, der uns der rechte ist, vor Gott und der Welt zu verantworten.

Herzlieb! Ich frage mich: war es schon einmal zu einer Zeit so, daß der denkende Mensch immer, will sagen zumeist mit der jeweiligen Staatsführung übereinstimmte? Ich glaube nicht.

Wir Menschen sind ja alle ein Sandkorn nur auf Gottes weiter Erde. Wir sind Wegbereiter nur einer kommenden Zeit, von der wir hoffen müssen, daß sie besser wird, als sie momentan ist!

Du leidest unter der Formlosigkeit unsrer Zeit. Ich kann es Dir nachfühlen, Du! Und vorausgeschaut, auf unsere gemeinsame Zukunft, wird es noch manche Stunde geben, da Du Dich mit dieser Zeit auseinandersetzen wirst. Jeder wahre, aufrechte und gerade Mensch muß das tun und lehren, was er vor seinem Gewissen verantworten kann. Und ich sage: bleibe dir immer selber treu, mag kommen was kommen will. Ein reines Gewissen ist mehr wert, als aller falscher Ruhm. So halte selbst ich es in meinem kleinen, bescheidenen Leben. Ach Du! Wo zwei Menschen in Liebe, Verstehen und Vertrauen sich fanden, da ist die Welt und das Leben in ihr mit all seinen Irrungen und Wirrnissen viel leichter zu ertragen als allein. Es könnte sein, daß ein einsamer Mensch an dieser Zeit zerbricht. Ich kann mir das leicht denken.

Und Herzlieb! Da kommen mir wieder die Gedanken von gestern. Siegfried. Er ist im Grunde seines Wesens auch ein [Nordhoff], wenn auch ganz anders als Du, Liebster! Mag es sein, daß er paar Jahre jünger ist als Du, oder, daß sein Leben andere Bahnen einschlug als Deines. Ich kann mir denken, daß er allein ist. Daß er keinen lieben Menschen hat in dieser bösen Zeit, außer den Eltern, dem er mal sein Herz ausschütten kann. Und unter welchen Umständen er jetzt sein Leben hinbringen muß, das ist dazu angetan, Sehnsüchte zu erwecken, die vielleicht die natürlichen Grenzen sogar überschreiten. Ach, es wollen viele Gedanken hierzu auf mich einstürmen. Aber ich will nur eines herausschälen.

Wenn ich mich in Deine Lage versetze, als älterer Bruder, dessen junge Frau vom jüngsten Bruder zu den Urlaubstagen eingeladen wird; dann wäre ich nicht ganz frei von einem beklemmenden Gefühl. Es ist vielleicht nicht schön, nicht recht, wenn man unter Geschwistern und unter Verwandten solche Gedanken hegt. Und doch – ich kann sie auch nicht von mir weisen.

Das Leben ist oft so rätselvoll und es werden uns vom Schicksal Fallen gestellt, die, wenn man sie vorauskommen sieht, besser umgehen sollte.

Herzlieb! Wie soll ich mich Dir recht erklären und verständlich machen? Es ist mir schwer – und ich möchte auch niemanden [sic] nahe treten mit dem, was ich hier aufschreibe. Wirst Du mich recht verstehen? Ich mache mir meine eigenen Gedanken zu diesem Besuch in Kamenz, wenn es soweit kommt, daß ich fahre zu Siegfrieds Urlaub. Und Siegfried stellt sich innerlich gewiß auch ein auf diesen Urlaub: diesmal wird meine Schwägerin da sein. – Herzlieb! Ach, ist es häßlich, wenn ich alles so zerpflücke? Siegfried ist ganz anders als Du –– ich weiß es, seit er einmal einige Tage bei uns war. Er ist in seinen Empfindungen nicht so scheu und verhalten wie Du. Ich kann ihm nichts nachreden! Nein! Aber, wie soll ich sagen –– seine Blicke, die sind anders als Deine. Und ich sehe das, spüre das –– es ist uns Frauen gegeben mehr zu fühlen, als durch Worte zu empfangen. Und ich werde dann an Dich denken müssen, Geliebter! Der Du mir ferne sein mußt. Ach, man kann schon mit Blicken und mit den Sinnen sündigen. Und jetzt, da ich nun um all das weiß, schon vorher, schon ehe ich zu Siegfried fahre, da könnte ich ihm vielleicht nicht so arglos wie immer gegenübertreten. Aber das ist falsch. Da sind Deine Eltern. Da ist mein ganzer Halt!: meine unwandelbare Liebe zu Dir! Du!!! Ich bin ganz Dein! Keinen Augenblick würde ich das je vergessen!!

Ach Geliebter! Was denke ich hier! Sag, ist es übertrieben? Ich kann mich aber der Gedanken auch nicht erwehren. Ich bin Dein Weib, Du! Er ist Dein Bruder. Jeder weiß, was er zu tun und zu lassen hat – jeder kennt seine Grenzen. Die Liebe von Weib zu Mann wird stärker sein, als unlautere Wünsche. Die Geschwisterliebe wird mächtiger sein, als eine Sünde auch nur mit Blicken. Ich brauchte um all das keine Gedanken zu verschwenden, wenn es das Leben, die Wirklichkeit nicht schon anders gelehrt hätte.

Auch Du wirst Dich hier vielleicht dunkel an irgend ein Geschehen erinnern können aus Deinem Leben, was den gleichen Charakter trägt. Oder hast auch Du schon darüber nachgelesen irgendwann, daß trotz aller Liebe untereinander der Drang, wie soll ich sagen – das Blut und der Ungestüm der Jugend stärker war, als alle weise Voraussicht.

Geliebter! Meine Phantasie malt schlimme Bilder!

Du! Verzeih mir!! Geliebter!! Diese Bilder, sie kommen mir bei Deinen Betrachtungen: Alles schwankt, alles ist im Fließen – wieviel Menschen haben noch einen festen Boden unter den Füßen? – Und wer ihn schon hatte, was könnten nahezu 4 Jahre Soldatenleben unter einer Masse, die den Stempel des Verfalls trägt nicht alles verschütten? – Und was macht die Welt so trunken und taumeln? Den meisten kommt es wohl garnicht so zum Bewußtsein – menschlicher Hochmut, Schranken- und Hemmungslosigkeit, Formlosigkeit, Eigenwilligkeit, allgemeines Durcheinander, Suchen und Tasten wollen in vielen Menschen sich auflehnen gegen alte Ordnungen. –

Ach, es ist wohl nicht recht von mir, den Siegfried im Zusammenhang dieser Betrachtungen zu erwähnen. Ich kenne ihn doch noch zu wenig, um scharf urteilen zu können. Aber Du, Herzlieb? Wirst Du mir meine Bedenken zerstreuen können? Du hast Dich in all den Jahren der Trennung mit Deinem Bruder auseinandergelebt. Du wirst nicht mehr ein rechtskräftiges Urteil über ihn ablegen können. Auch Siegfried ist in diesen Jahren gewachsen – und wir wissen nicht, unter welcher Obhut und Gesellschaft. Meine Phantasie malt wohl zu drastisch!

Und ich? Ist es nicht erbärmlich feige von mir, wenn ich mich fürchte, wenn ich bange vor diesem Zusammensein? Worum fürchte ich denn? Ich habe Deine Liebe, Du hast meine Liebe. Ich habe Dein Vertrauen – Du hast mein Vertrauen. Geliebter!! Und beides so ganz, so ganz ausschließlich!

Herze, mein Herz, warum so zag?

Geliebter! Ich kann es nicht hindern. Ich vermeine aus all Deinen Zeilen die heimliche Sorge und Angst um meine Liebe zu spüren! Du!!! Oh Du!!!!! Und ich bange darum, daß Du mir nicht mehr vertrauen könntest! Ich weiß wie unendlich Deine Liebe zu mir ist – oh, ich weiß es beglückt – und manchmal erfüllt es mich beinahe mit Sorge, wie sehr Du mich liebst. Und es hat schon kleine Mißverstän[d]nisse gegeben um dieser Liebe willen, Du! Ich denke an das letzte hierbei, im Wartesaal des Dresdner Hauptbahnhofes. – Ach, es sind Nichtigkeiten alles, bei der Tiefe unsrer Liebe, bei der Größe und Erhabenheit unsres Bundes! Aber die bösen Zweifel, sie kommen manchmal über den Menschen, ohne daß er es will – in einer Stunde da er nicht Herr seiner selbst ist, unterliegt er dem Zweifel. Und er kann an seinem Herzen nagen wie eine giftige Schlange. Und niemand, der das Dunkel lichtet. Weil die Ferne uns trennt. Du!! Alle die Gedanken kommen und gehen bei mir, ach die ganze Nacht hat mich das beschäftigt. Geliebter!! Und nach langem Grübeln, daß [sic] mich den Schlaf nicht finden ließ, erlöste mich dann mein Gebet und gab mir den inneren Frieden wieder.

Ach Liebster! Du hast recht. Der Übel größtes ist, daß die meisten Menschen kein Verhältnis zu Gott haben. Daß sie ihn nicht erkennen, den Jesus Christus uns kündigte. Daß sie nicht schlicht 2., selber 1., unvoreingenommen darüber nachlesen und sich ein Urteil bilden. Und Du sagst selbst so treffend: daß sie sich lieber in langatmigen Reden Meinungen einreden lassen, daß sie über allem Kleinen, Unstimmigen Nebensächlichen die große Wahrheit und Heilsbotschaft nicht erkennen, daß sie mit den Mängeln der kirchlichen Organisation und den menschlichen Schwächen der Geistlichen, den Dienern am Werke, das Werk selber beiseite schieben.

Und hier muß ich etwas einflechten, Herzlieb. Wie ein kleines Wunder spielte mir der Zufall mein schon so lang begehrtes Buch von Keßler in die Hände: „Ich schwöre mir ewige Jugend.“ Und eben, da Du mir in Deinen lieben Boten über die Formlosigkeit, das Wesen unsrer Zeit, klagst, darf ich mir aus diesem Buche Kraft holen und es ist mir sogar, wie Trost, zu all dem was Du anrührst. Du mußt das Buch lesen, ich will es Dir gleich schicken, sobald ich fertig bin. Um Dir in kurzen Zügen anzudeuten, worum es sich in dem Buche handelt, will ich Dir die Kritik der Deutschen Allgemeinen Zeitung abschreiben, die mir meinen Empfindungen hierzu am nächsten liegt.

Vom ersten bis zum letzten Wort fesselnd, dazwischen zahlreiche kleine Geschichten und persönliche Erlebnisse, schildert Keßler aus einem an Erfahrungen reichen Leben heraus eine weite Epoche. Im Geiste durchwandert man noch einmal die Zeiten von den Jahren an, da eben das Deutsche Reich gegründet wurde, bis zur Gegenwart hin, und aus allem spricht ein Mann, der sich ewige Jugend geschworen hat, für den sein Glaube der ewige Jungbornen ist und bleibt. Aber nicht Zeitereignisse werden beschrieben, Persönlichkeiten treten auf, in denen sich die Zeiten verkörpern. Das eigene Ich tritt zurück vor der Fülle der Gestalten, die den Lebensweg des ehemaligen Erziehers der beiden ältesten Kaisersöhne, des ehemaligen Hofpredigers und Soldatenpfarrers in Potsdam in Friedenszeiten und im Kriege kreuzten oder eine Strecke begleiteten. Im Spiegel eines arbeitsreichen Lebens ersteht vor unseren Augen das Bild einer ereignisreichen Zeit, mit schlichter, lebensbejahender Offenheit gezeichnet von einer Persönlichkeit, die mit den Lebensmächten, die das Wesen dieser Zeit bestimmt haben, in inniger Berührung gestanden hat. ––

Ach, Herzensschätzelein! Mein geliebter [Roland]!! Sieh, nun habe ich Dir all das gesagt, was mich bewegte, als ich Deine Betrachtungen las – ob Du mich recht verstehen wirst, Du? Ob Du in allen Dingen erkennst, wie ich mich mühe mit Dir eins zu sein, ein Ganzes? Wie ich es ersehne! Und wie mich heiße, innige Liebe treibt, alle Hemmnisse aus unserem Weg zu räumen? Geliebter!! Kennst Du mich hinter diesen Zeilen wieder, mich, Dein Weib?! Du!!!

Ich will Dir so ganz gehören mit Leib und Seele, mit meinem ganzen Herzen! Oh Du!!! Du!!! Ich liebe Dich so innig, so geheimnistief – so wie Du mich liebst. Ich bin so glücklich in Deiner Liebe, wie Du in der meinen. Ich halte Dich so fest umfangen, wie dDu dmich! Ich finde an Dir den Halt, den Du bei mir findest. Sooo glückliche Menschenkinder sind wir darum! So unzertrennlich, sooo unverlierbar einander! So ganz aneinander gegeben! So wie mich, drängt es Dich, ganz Dich zu verschenken. So ganz genug sind wir einander! Ich kann nicht denken, daß es jemals anders würde. Und das, weil wir mit Herz und Sinnen einander verbunden sind. Gott sei unserem Bunde gnädig! Er halte uns demütig im Glücke! Er schütze Dich! Du mein Leben! In Liebe und Treue ganz

Deine Hilde.

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Autor Hilde Nordhoff
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Über den Autor

Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946