Oberfrohna, am 19. März 1939.
Sonntagabend
Mein lieber [Roland]!
Heute, am Entlassungstage dachte ich oft an Dich.
Er ist ein besonderer, ein großer Tag für Dich.
Den jungen Menschenkindern, die bis jetzt unter Deiner und der Eltern Obhut standen, öffnet sich nun die Pforte, die hinausführt aus dem schönen Kinderland ins Leben.
Ich denke an meinen Entlassungstag zurück.
Ja, froh war ich schon, dem Schulgebäude den Rücken zu kehren, — hoffend, daß nun die schönste Zeit beginnt, von der wir alle schwärmten, die Zeit des Erwachsenseins. In Erwartung dessen, was die Großen Welt und Leben nennen, von dem vielem Neuen und Unbekannten, daß sich uns nun erschließen würde, wie ein geheimnisvolles Paradies, kam ich mir direkt wichtig vor.
Die Feier in der Aula uns[e]rer Schule, die Musik, die schönen Lieder — alles weihte man uns, den Scheidenden. Doch dann, als Herr Direktor Sch. die Ansprache hielt für uns — der Sinn ist mir nur noch dunkel in Erinnerung geblieben — weiß ich noch, daß bei seinen Worten in mir eine Änderung vorging. [Siehe Ausschnitt aus dem Brief.]
Da saßen wir nun alle, die Kameraden, die Klassenlehrer und bei dem Gedanken, daß dies nun das letzte Beisammensein ist, überkam mich tiefe Wehmut. Ja, ausgestoßen und verlassen kam ich mir vor. Wie ein hilfloses Kücken [sic], daß die schützenden Flügel der Mutter verlassen muß, weil seine Zeit gekommen ist, auf eignen Füßen stehen zu lernen, und stark zu werden für den kommenden Lebensweg, den man ja allein gehen muß, innerlich gefestigt und nicht an der Hand der Eltern, oder fremder Menschen.
Wohin war da die jauchzende Freude auf das Sonnenland, das vor uns lag?
Doch der Ernst und die Bedeutung dieses neuen Lebensabschnittes kam mir noch viel deutlicher zur Erkenntnis am Konfirmationstage. Die ganze Handlung in der Kirche hatte mich aufgewühlt. Lange Zeit vorher hat sich der Pfarrer im Konfirmandenunterricht gemüht, uns hinzuführen auf dem Weg zu Gott.
Als Kind fehlt einem noch das rechte Verständnis, die innere Aufnahmefähigkeit für die Gottesbotschaft. Und ehrlich gesagt, es gab Zeiten, in denen wir das alles als einen Zwang betrachteten. Und am Palmsonntage standen wir nun vorm Altar und taten unser Gelübde. Im schwarzen Kleide, daß schon an den Ernst dieser Stunde gemahnte und an kommende Pflichten.
War unser Herr mit ganzem Bewußtsein bereit, dies Gelübde zu erfüllen? Ich war recht bedrückt, als ich das ‚Ja’ sagte, mit ehrlicher, völliger Überzeugung habe ich es nicht gekonnt. Ich war mit mir selbst noch nicht im Reinen — etliches begriff ich nicht — und eine unüberwindliche Scheu hielt mich davon ab, mich einem Menschen anzuvertrauen und mehr Auskunft darüber zu erlangen. Am Abend des Palmsonntags kam das Erlebnis mit seiner ganzen Wucht über mich. Ich weiß noch, daß ich gebetet habe — daß mich Gott nicht als Lügner ansehen möchte, daß er mein Schwanken nicht hart verurteilen möge; daß ich mich mühen will darum, ihn zu verstehen und ihn bat um Geduld mit mir.
Ist man in diesem Alter noch zu unfertig, um vor solch eine wichtige Entscheidung gestellt zu werden?
Aber später — sind wir da noch wirklich frei?
Ich habe mir oft noch Gedanken darüber gemacht — doch das Leben ging weiter, und ich vergaß die Sorgen darum. Mit dem Kapitel Gott, kommt man glaub’ ich nie zu Ende; es ist schwer, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden. Wir Menschen hängen zu sehr am Irdischen.
So ist nun jeder bemüht, eine gute Saat zu sein, in die Herzen der Jugend — die Eltern, die Lehrer, der Pfarrer —und alle wünschen und hoffen, daß sie reiche Frucht bringt.
Jugend, Träger der kommenden Zeit, stählt eure Herzen und Arme, Deutschland baut auf die junge, starke Generation — so sagt die Zeit zu uns. Und gerade jetzt, wo uns der Ernst des Geschehens immer wieder so deutlich spürbar wird, ist es notwendig, [da]ß die, die nun im Anbeginn des Lebens stehen beweisen, daß sie die Mühe der Erzieher lohnen durch die Tat.
Jetzt hab ich mich mit dem Thema so weit verloren, und es ist darüber fast Mitternacht geworden. Du mein lieber, guter [Roland] schläfst gewiß schon?
Gut Nacht! Ich küsse Dich, Du!
Am Montag.
Mein lieber [Roland]!
Heute will ich den Brief zu Ende schreiben; doch vorher will ich nicht vergessen, Dir recht herzlich zu danken, mein lieber [Roland], für Deine lieben Zeilen, die ich am Freitag erhielt.
Mir war heute den ganzen Tag über so sonderbar zumute. Es ist Dir doch nichts geschehen? Ist alles noch beim Alten? Meine Gedanken kreisten immer um Dich, ich kam nicht los — dabei waren es gar keine bestimmten Gedanken. Oder hast Du meiner recht oft gedacht? Du Glücklicher hattest doch gewiß auch dienstfrei heute.
Ach, ich kann in den großen Jubel unsres Volkes noch gar nicht mit einstimmen; es ist mir noch unfaßbar das neueste, gewaltige Ereignis, ich bin ganz benommen.
Die Menschen, die Zeitungen, die Nachrichten im Rundfunk, alle sind sie voller Triumph und Begeisterung.
Und trotzdem — es schwebt über allem Jubel wie eine dunkle Wolke, die Sorge um die Weiterentwicklung in dieser Geschichte. Mutmaßungen, Gerüchte tauchen auf, lassen sich nicht hinwegtäuschen, weil Beweise dafür sprechen. Ich will daran nicht schreiben! Du wirst mich verstehen. —
Können wir noch zurück? Auch ich beschäftige mich mit dieser Frage. Es liegt nicht allein in unseren Händen, daß wir uns mühen um ein gutes, inniges Verstehen. Eine höhere Macht steht über uns. Es ist ein ewiges Suchen in uns, nach dem Menschen, der unser anderes Ich verkörpert — und wir rasten und ruhen nicht, bis wir diesen Menschen gefunden glauben. Um das zu erforschen, müssen wir uns näherkommen, prüfen. [Anfang gewellte Markierung linke Seite] Daß zwei Menschen völlig ineinander aufgehen, vermag ich nicht zu glauben, es bleibt ein Rest des Nichtverstehens. [Ende]
Sie können sich aber durch die Liebe zueinander so ergänzen, daß dieser Mangel an Verstehen trotzdem nicht als Leere empfunden wird, das halte ich für möglich.
Du bist ein gereifter Mensch, Du brauchst eine Frau, die Dir mehr ist, als nur Frau.
Lieber [Roland], Du weißt um meine Liebe zu Dir, daß nichts sie mir nehmen kann und diese Erkenntnis macht mich stark. Und ich bitte Gott, daß er diese Liebe in mir immer tiefer Wurzel fassen läßt, sodaß ich Dein Vertrauen und Deine Hoffnung nicht enttäuschen muß.
Du fühlst Dich in Schuld bei mir? Sag doch selbst, war das Tändelei, die uns zu solcher Vertraulichkeit hinreißen ließ? Hatten wir nicht beide das Gefühl zu beschenken, immer und immer wieder? Und das war der Beweis uns[e]rer Liebe zueinander — glaube mir, niemals würde ich bereuen, was ich aus Liebe tat.
Wir gehen unsern Weg weiter, er wird enger und schmaler.
Weißt Du, was ich nicht ertrüge? Wenn Du diesen Weg mit mir gehen müßtest, gezwungen und darum unglücklich; wenn Du um besonderer Umstände willen Dir eine Last aufbürdest.
Lieber [Roland], niemals soll ein Zwang Dich zu einer Handlung nötigen — immer soll nur Dein Herz entscheiden, vergiß das nicht! Wenn ich erkennen müßte, daß Du mir einmal nur die Hand reichst, damit mein Ehrenschild nicht befleckt würde — diese Demütigung ertrüge ich nicht. —
Ach Du! Lieber [Roland], ich ahnte nicht, daß ich Dir Deine Ruhe rauben konnte. Schade ich Dir nun? Ich werde strenger werden müssen zu Dir! Wir bringen uns zu sehr in die Versuchung. Kann die Versuchung so stark werden, daß sie uns quält? Ich glaube an Dein Starkbleiben und ich will Dich dabei unterstützen, Du!
Ich bin neugierig, welcher Art die Arbeit ist, die wir uns nun künftig bei unseren Beg[e]nungen vornehmen.
Es freut mich, daß Du im Gespräch mit meinem Vater schon ein wenig warm geworden bist. Bei Mutter hast Du ganz richtig beobachtet, doch das wird sich schon geben. Mit dem Büchervorschlag machst Du ihr sicher große Freude. Deinen Wunsch werde ich mal im Auge behalten.
Glaube nicht, daß ich über die Eltern bestimmt habe. Ich war ja selber erstaunt und natürlich erfreut zugleich, Du! Sie werden schon verstehen, daß bei einer Zwischenpause von 4 Wochen allerhand erzählt werden muß, was nur für unsre Ohren bestimmt ist. Außerdem waren sie doch auch mal jung! Ich rechne ihnen hoch an, daß sie mit keinem Wort daran rührten.
Und nun freue ich mich schon wieder auf den Karfreitag! Wirst Du mir bei Gelegenheit einmal Deine Pläne für diesen Tag erzählen? Bei uns ist auch noch dicker Winter, es schneit auch noch. Am Donnerstag bin ich vor der Singstunde Schneeschuhe gefahren und denk Dir, auf dem Heimweg hat sich der neue Pfarrer ein ganzes Stück als mein Pferd vorgespannt u. mich gezogen, einmal auch Herr Gründer. Die andern feierten noch Abschied in der Gaststube, die Amerikanerin fährt weg. Und jetzt will ich aufhören, Dich mit langen Briefen zu verwöhnen und will Dich lieber küssen und in Gedanken recht liebhaben, bis ich einschlafe, mein lieber, lieber [Roland] Du! Waren die Eltern bei Dir?
Nun Gute Nacht! Behüt Dich Gott und sei herzlichst gegrüßt von
Deiner [Hilde].
Herzliche Grüße von den Eltern
u. Dank für Deine lieben Zeilen.
Hilde Nordhoff
Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.
Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946
Daniela Eichler-Schwarzkopf
Hildes Ausdrucksweise ist, worüber auch immer sie schreibt, eine bildreiche. Auffallend sind die Bilder, die sie verwendet, wenn sie von Gott, ihrem Glauben, den Aufgaben der Kirche erzählt. Wurzeln, Saat, Frucht, diese Verbindung zur fruchtbaren Erde schlägt sie auch in anderen Briefen immer wieder. Nach 12 in einer (allerdings) katholischen Schule verbrachten Jahren glaube ich den Schulpfarrer zu hören, der uns im Religionsunterricht auf den katholischen Glauben einschwört oder am Sonntag von der Kanzel zu seinen Schäfchen predigt. Diese für die christliche Kirche typische Ausdrucksweise ist seit jeher nahezu unverändert, Hilde hat sie sich "vorbildlich" zu eigen gemacht.