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[OBF-381116-002-01]
Briefkorpus

Oberfrohna, am 16. Nov. 1938.

Lieber [Roland]!

Draußen herrscht unfreundliches Wetter, sehr trübe ist es — ein wenig beherrscht es sogar meine Stimmung. Ich war heute nicht zum Gottesdienst, die Kantorei hat auch nicht gesungen.

Jetzt halten die Eltern noch Mittagsruhe, meine Gedanken sind bei Ihnen. Ich befürchte, daß Sie meine Karte nicht mehr erreichte, das täte mir so leid.

Wie lange doch diese Unstimmigkeit nachwirkt in uns. Es ist rührend, wie Sie sich sorgen und mühen, um mir das Herz zu erleichtern. Lassen Sie mich nochmals herzlich danken für Ihren letzten Brief. Er läßt mich wieder hoffnungsvoller blicken in die Zukunft. Freilich werden noch viele Steine auf unserm Wege liegen, große und kleine. Doch wir wollen sie mit Gottes Hilfe überwinden, im Glauben an einander und im Glauben an die Stärke und das Gute in uns.

Lassen wir nun das Trübe hinter uns — freuen wir uns des Kommenden. Sie haben mich mit Ihrer Hoffnungsfreudigkeit angesteckt: Es wird alles wieder gut werden.

Am Sonnabend, nachmittags werden wir uns wiedersehen, uns die Hände drücken. Ich freue mich sehr darauf. Es wird für Sie ein wunderliches Gefühl sein, so nahe der alten Heimat. Wenn uns nur der Wettergott gnädig gesinnt ist.

Ich lege Ihnen den Spielplan vom Theater bei. Die Wahl des Stückes, das wir besuchen wollen, überlasse ich gern Ihnen. Mir ist beides unbekannt. Etliches las ich in der Zeitung über Eduard Künnekes Operette: „Lady Hamilton”. Die Erstaufführung fand am 12. November in Gegenwart des Komponisten und auch des Textbuchdichters Richard Bars statt. Sie soll ein sehr großer Erfolg gewesen sein.

Vielleicht kennen Sie eines von den beiden Spielen? Ich hätte gern die Karten sicher gehabt, doch ich konnte mich nicht entschließen; ich möchte auch nicht voreilig handeln. Hoffentlich sind am Sonnabend noch zwei übrig.

Es wäre schön, wenn wir ein Kirchenkonzert besuchen würden, ich interessiere mich dafür. Gerade gestern abend fand in der Kirche zu Rußdorf eins statt; ich machte meinen Mädels den Vorschlag, mal hin zu gehen. Die Antwort werden Sie sich denken können, ohne daß ich sie niederschreiben muß. Dann schlug ich vor, in der Schule den Hausmusikabend zu besuchen. Sie kamen gestern beide schon ½ 8 [Uhr] zu mir, und wir wären noch gut zurecht gekommen; doch auch dafür war kein Interesse da. Ich meinte, ihnen damit einen Gefallen zu erweisen, weil sie sonst meist murren über die Kränzlabende [sic] ohne Musik.

Hildes Gleichgültigkeit für Kirchenmusik ist wohl verständlich, aber Luise begreife ich nicht. Es müßte doch auch für sie reizvoll sein, die Musik alter Meister zu hören. Sie ist ihr ja schon so vertraut geworden durch die Singstunden. Nun, wenn die abendlichen Vespern beginnen, mache ich mich eben allein auf, mögen sie sagen, was sie wollen.

Am Montag in der Singstunde haben wir mit dem Lernen des Liedes begonnen: „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist des Menschen Leben.” Ich glaube von Melchior (Michael) Franck. Am Donnerstag noch einmal Probe, dann muß es klappen. Herr G. stand noch ganz im Eindrucke von dem, was er ‚drüben’ gesehen [sic]. Er war vorigen Donnerstag mit seinen Leuten in der Gegend von Komotau [Sudetenland], sie besichtigten dort Befestigungen. Früh, beim Durchmarsch durch Chemnitz, hat er die Anschläge bewundern können, die man auf die jüdischen Geschäfte verübte. Alles ist wieder mal aufgeregt und gespannt, wie sich die politische Lage weiter entwickeln wird. Zu allen Städten sollen diese Aktionen vorgenommen worden sein? So werden Sie auch Gelegenheit gehabt haben, auf Ihrer Reise diese ‚Werke’ zu sehen. In Chemnitz brannte der Judentempel, die Feuerwehr hat nicht eingegriffen, nur die nächstliegenden Gebäude geschützt.

Ich betrachte jetzt Dora P. mit anderen Augen.

Seit sie gesund ist, scheint mir, sie habe ihre alte Spannkraft wieder. Nachdem ich am Sonntag Ihren Brief las, lenkte ich tags darauf meine Aufmerksamkeit doppelt auf sie. Man kann das am besten, wenn man eine Person ganz unauffällig beobachtet; beim Gespräch mit anderen, oder wie sie sich gibt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Schwermut finde ich nicht mehr an ihr. Gewiß, ihr Inneres bleibt mir verschlossen.

Sie plauderte auf dem Heimweg so lustig von ihrer Tanzstundenzeit, wir waren nur zu zweien. Und in der Singstunde war sie paarmal so lieb zu mir, daß ich mich schämte. Ich mußte immer daran denken, wie weh es ihr tun wird, erfährt sie einmal um unsre Freundschaft. Das Schicksal ist oft so hart.—

Beim Abschied abends unter der Lampe denke ich stets an Sie. Wie vieles könnten die Häuser an dieser Kreuzung von uns erzählen. Viel Seltsames hat sich schon da ereignet. Meist erinnere ich mich nicht sehr gern daran — ich muß mich doch immer schämen. Welch eine Range war ich.

Ich glaube das war die Zeit meiner Flegeljahre. Jetzt fühle ich mich ganz anständig. Finden Sie auch?

Ich setze nun einen Punkt, wir haben uns doch sonst garnichts zu erzählen. Sie schreiben mir bitte noch ein paar Zeilen über Ihre genaue Ankunft. Möchten die Stunden recht eilen, bis ich Sie willkommen heißen kann. Gott möge mir Sie gesund erhalten. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und Glück auf dem Weg, lieber [Roland]!

Bis zum Wiedersehen recht herzliche Grüße von

Ihrer [Hilde].

Die Eltern danken für Ihre Grüße und lassen herzlich grüßen.

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Hilde Nordhoff

Foto von Hilde Nordhoff. Nahaufnahme, Person im Sommerkleid, im Hintergrund Bäume.
Ba-OBF K01.Ff2_.A12. Hilde Nordhoff, 1940, Oberfrohna, Fotograf unbekannt, Ausschnitt aus Fotoalbum.

Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.

Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen

Über die Korrespondenz

Oberfrohna

Fotografie des Brautpaars Nordhoff am Tag ihrer Hochzeit vor dem Portal der Kirche.

Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946