Oberfrohna, am 2.4.1939.
Oberfrohna, am 29. März 1939.
Mein lieber [Roland]!
Nun halten mich Alltag und Pflicht wieder ganz umfangen. Auch die Pflicht Dir, Lieber, zu schreiben mahnt mich; wir haben es nach einem Beisammensein immer so gehalten, daß unsre Briefe sich kreuzen.
Soll es diesmal anders werden?
Heute ist Schulschluß — Du wirst heimfahren.
Ins neue Heim? Du wirst warten auf ein Zeichen von mir. Ich habe noch nicht den rechten Drang zum Schreiben — und wenn ich mich zwinge, das ist nicht gut.
Ich muß oft, so oft an Dich denken, Du!
Die Gedanken sind von mancherlei Art, vielmals gehen sie wirr durcheinander — aber immer enden sie: Wie habe ich Dich lieb! Du! Hat uns vielleicht gar das zauberhafte Theaterstück verwandelt? Shakespeare — ich kenne nur weniges von ihm. Ein Gedicht, vor mindestens 8 Jahren schon schrieb ich’s aus einem Heft des ‚Lesezirkels’ ab, — Du sollst es wissen.
Sind echte Seelen innerlich vereint,
Trennt nichts sie. Der hat lieben nie gelernt,
Der Wechsel findet, wechselt; sich entfernt,
Wenn sich der andre zu entfernen scheint. —
Nein, Liebe ist ein festgefügtes Mal,
Vom Sturm und Wogen unversehrt;
Irrendem Boot ein Richtstern, dessen Wert —
Erhaben über Maß, Begriff und Zahl;
Der Liebende ist nicht der Narr der Zeit,
Wenn süßer Wangen Reiz auch welken mag.
Er wandelt sich nicht mit dem Stundenschlag,
Er lebt im Schicksalslicht der Ewigkeit.
Ist Irrtum dies, so fällt, was ich schrieb,
Und niemals sprach ein Mensch: „Ich hab dich lieb.“
—
Mein lieber [Roland]! Wenn einmal böse Zweifel Dich umfängt — was auch sonst alles kommen mag, denke immer daran: Ich hab Dich lieb, mehr als alles auf der Welt.
Nun ist es an der Zeit zu gehen, heute Abend ist Passionsgottesdienst und wir singen. Vergiß mich nicht, Du!
Gut Nacht, mein lieber [Roland]. Ich küsse Dich.
Deine [Hilde].
Am Palmsonntag.
Mein lieber [Roland]!
Womit habe ich Dein treues Gedenken vergolten?
Nun mache ich mir Vorwürfe und schelte mich, daß ich durch meine Nachläßigkeit Deine Hoffnung — ein Brief von mir — zuschanden werden ließ. Du hast trotz allem Zeit zum Schreiben für mich gefunden.
Meine Nachläßigkeit — das ist doch etwas zu hart ausgedrückt. Glaube nicht, daß ich Deiner nicht gedacht hätte diese Tage, Du! Sag, ist es Dir auch schon so ergangen, daß Dich irgend etwas unerklärliches davon abhält, das Geschriebene fortzuschicken? Bitte, sei mir nicht böse.
Ach Du, mit dem ersten Gruß aus deiner neuen Heimat hast Du mir ja so viel Freude gemacht. Ich danke Dir recht sehr für die schönen Bilder. Soviel ich danach urteilen kann, so mein ich, daß Du Dich gewiß sehr bald mit dieser reizvollen Umgebung befreunden wirst — sie ist Dir ja übrigens gar nicht völlig fremd. Die Gesamtansicht von Kamenz und die Stadtkirche gefallen mir am allerbesten. Die Kirche, wie sie hoch über allem Andern steht — wie ein trutziger, eherner Wächter schaut sie ins Land. Einmal werden wir sie uns miteinander besehen und das viele Schöne, was noch übrig bleibt, auch. Und heute früh erhielt ich Deinen lieben Brief, ich danke Dir herzlich dafür, lieber [Roland]. Und ich freue mich mit Dir, daß auch Euer Umzug nun glücklich beendet ist und, was wohl die Hauptsache ist, daß es Euch allen recht gut [ge]fällt. Die Geräumigkeit dieser Wohnung wird Euch angenehm berühren, besonders dann, wenn einmal alle versammelt sind. Und die Vorzüge in Bezug auf das Bad, und die neuzeitliche Koch- und Backgelegenheit in der Küche, wird besonders Deine Mutter erleichtert und dankbar empfinden. —
‚Wo bin ich zu Hause?’ So schriebst Du mir — eigenartig berührte mich das — es klang wie der Ruf eines Verlassenen. Du! Mein [Roland]! Wie sehnte ich mich in diesem Augenblicke, Dich bei mir zu haben — Deinen Kopf an mein Herz zu drücken, fest und innig — und Dich zu bitten: Bleib bei mir, sei hier zu Hause, Du!
Bin ich noch zu sehr Kind, um Dir Zuflucht, Heimat zu sein? Ich bin noch unfertig, ich muß noch reifer werden. Wir müssen unermüdlich weiterarbeiten und uns geistig noch viel näher kommen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen: die Harmonie der Seelen. Und nicht wahr, lieber [Roland], wir wollen unsre Unterschiede und Gegensätze, auch unsern Altersunterschied mit unseren besten Vorsätzen und mit Gottes Hilfe zu überbrücken suchen.
Ich vertraue Dir ganz und ich habe Dich lieb. —
Der Sonntag bei Dir. Ich war nicht Herr meiner selbst, ich gab mich ganz dieser Sinnlichkeit hin; so, zum ersten Male. Einmal öffnetest Du die Tür zur Wirklichkeit einen Spalt — Du erwähntest meine Mutter — eine Minute lang schwankte ich, Einhalt zu tun; doch das andre war stärker. Ich schäme mich meiner Schwäche.
Ratlos und bestürzt sah ich Deine Tränen. In dieser Nacht hab ich große Angst um Dich gehabt, Du!
‚Noch im Spiel ist mir die Liebe etwas so Ernstes, daß mir ein erlösendes Weinen näher ist, als ein befreiendes Lachen.’ So schriebst Du in einem Deiner Briefe, und das kam mir dieser Tage ins Gedächtnis.
Ich habe nie begreifen wollen, daß man einen Menschen auf diese Art so lieben könnte.
Du! Wie soll das enden?
Unzählige Male schwebt mir tagsüber dieses Bild vor meinen Augen. Schön kann ich es nicht nennen — manchmal treibt es mir das Blut ins Gesicht — manchmal steht es verlockend vor mir, daß ich vor meinen eigenen Gedanken erschrecke; und wieder empfinde ich es so erschreckend deutlich und quälend, daß es fast zum Verzweifeln ist.
Ich darf nicht wieder so schwach sein — ich hatte Schuld — ich will hart, sehr hart mit mir werden.
Mein Leichtsinn kam mir, in die Wirklichkeit zurückgekehrt, [e]rst völlig zum Bewußtsein. Mein [Roland], denke Dir in dieser Stunde statt Deiner einen Anderen. Ich glaube nicht, daß ich ihm danach rein und geraden Blickes hätte gegenüberstehen können; es hätte einen Kampf gekostet und ich hätte mich verteidigen müssen bis aufs Letzte. Ich kann das so mit Bestimmtheit sagen, weil ich erst in diesen Tagen aus dem Gespräch zweier Mädels erfuhr, wie niedrig und gering viele Männer unserer Zeit die Ehre eines Mädchens achten.
Du bist anders. Du bist fest in Deinen Entschlüssen und stark, Du willst meine Ehre schützen. Und ich will Dir dabei helfen — das kann doch nur sein, wenn ich mich ändere; jetzt hab ich Dir entgegengearbeitet, ich habe die Versuchung heraufbeschworen.
Wir wollen unseren Vorsätzen treu bleiben, Du! —
Heute bin ich ganz allein im Haus. Alle sind zum Patenschmaus und vorhin ½ 8 [Uhr] war das Patenkind der Eltern unten vorm Tor und wollte mich durchaus mit fortlotsen zur Feier. Ich dachte gar nicht daran, ich bin so froh allein zu sein mit Dir. Dein Bild steht vor mir auf dem Tisch. Wo wirst Du jetzt weilen? Wirst Du Dir auch keine Sorgen und schlimme Gedanken machen über mein Schweigen? Heute bin ich gleich nach dem Essen spazieren gegangen, reichlich 2 Stunden, ganz allein. Bei uns herrscht wunderschönes Wetter. Die Hainstraße hinunter nach dem Hohen Hain ging ich; in ‚Deinen Wald', während ich den Gemeindewald ‚meinen Wald' nenne. Wenn ich so in den Frühling hineinspaziere, wird mir ganz eigenartig zumute. Der Geruch der Erde, der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher und der laue Wind, all das weckt in mir ein Sehnen, ein Ahnen auf irgend etwas ganz Seltenes und Schönes, das nun kommen muß. Ich sehnte mich, Dich an der Hand zu fassen und hineinzuwandern mit Dir in den Sonnenschein, bis weit an den Horizont hin, wo die weisen Wolken sich ballen.
Wie wechselvoll, vor einer Woche stapfte ich mit Dir durch kniehohen Schnee — heute lief ich leicht über feuchte, duftende Erde. Alles, was mir heute in den Weg kam, was ich entdeckte draußen in der Natur, ich empfand es so froh und dankbar. Du hast mir heute gefehlt.
In der Kirche war es heute auch schön; aber denk nur, der Pfarrer vergaß, ein Mädel einzusegnen, ganz ohne Absicht. Ich hab das beobachtet, und glaubst Du, es war trotz aller Peinlichkeit doch zu drollig. Ein unruhiges Rücken in den Bankreihen begann, leises Flüstern und Raunen. Und als wir dann hinaustraten vor die Kirche, standen da schon Gruppen beisammen und tuschelten aufgeregt über den Fall. Man hat es dem Pfarrer gesagt, er natürlich tödlich erschrocken, schnell zu der betreffenden Familie geeilt und sich entschuldigt. Er wird das am Donnerstag zur Abendmahlsfeier nachholen. Die Leute standen, nachdem sie ihre Tochter übergangen sahen, mitten im Gottesdienst auf und gingen raus. Vielen ist dieser Vorfall entgangen, es waren schrecklich viele Menschen in der Kirche. Morgen Abend müssen wir im ‚Rautenkranze’ singen, anläßlich des Elternabends. „Es muß uns doch gelingen, denn Gott ist unser Schutz.“ Komponist? Vergessen. (Ich schäme mich schon!)
Du Böser, hast keinen Ton gesagt, daß Du so schöne Aufnahmen gemacht hast, als Deine Eltern zu Besuch waren. Du hast mich sehr erfreut, Du! Ich danke Dir herzlich. Fast bin ich erschrocken über die Größe Deiner Eltern, auf dem Verlobungsbilde sehen sie viel kleiner aus, sie gefallen mir sehr gut, die Mutter blickt so gütig und der Vater kommt mir vor, wie der Oberförster in höchsteig[e]ner Person. Wie klein sind H.s dagegen. Kennst Du etwa den großen Bengel, der da steht, die Hände vor Kälte in die Taschen vergraben? Der könnte mir gefallen. Auch den Eltern bereiteten die schönen Bilder Freude, sie lassen Dich auch herzlichst grüßen und wünschen Dir frohe Stunden der Erholung im neuen Heime.
Wie viele Kinderbetten sind den im Kinderschlafzimmer aufgestellt?
Die vergangenen Tage habe ich tüchtig gearbeitet, von früh 7 bis abends 6. Kommende Woche bleibt dieses Programm nochmal bestehen und sogar am Ostersonnabend wird gearbeitet. Bei diesem schönen Wetter kostet das Stillsitzen schon ein bissel Mühe. Aber ich werde fleißig Deiner denken und Dich heimlich begleiten auf Deinen Streifzügen; dann wird mir die Zeit nicht gar so lang. Sag Deinem Freund, er soll Dich mir ja nicht ganz nehmen! Und fahre nicht so viel mit dem Rad umher, ruhe Dich recht schön aus und erhole Dich gut, lieber [Roland]!
Am Karfreitag werde ich mir nicht viel vornehmen können, wir haben zweimal Dienst in der Kirche. An den Feiertagen werden wir einmal Besuch aus Glauchau bekommen und einmal werde ich ins Theater gehen „Parsifal".
Nun erst mal Schluß für heute.
Bitte, sei Du nicht böse, wenn ich Dich enttäuschte, daß ich so lang schwieg.
Ich wünsche Dir an den kommenden Ferientagen recht viel Vergnügen, recht gute Erholung und auch recht gutes Wetter. Ich bleibe bis zum Wiedersehen ganz brav! Und nun mein lieber [Roland], schlafe wohl! Behüt Dich Gott!
Ich küsse Dich, Du, und grüße Dich recht herzlich
Deine [Hilde].
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Hilde Nordhoff
Hilde Nordhoff wurde 1920 als Hilde Laube in eine Arbeiterfamilie in Oberfrohna, eine Kleinstadt in Sachsen, hineingeboren. Sie arbeitete ein Jahr lang als Hausangestellte, dann in einem Trikotagenwerk.
Sie kannte Roland Nordhoff aus der Kantorei in Oberfrohna und trat sogar der evangelischen
Oberfrohna
Das Konvolut aus Oberfrohna befindet sich gut erhalten in privaten Händen in Deutschland. Es umfasst 24 Aktenordner mit ca. 2600 Briefen, die zwischen 1 und 20 Seiten lang sind. Der Briefwechsel beginnt im Mai 1938 und dauert, mit einigen kurzen (Urlaubs bedingten) Unterbrechungen, bis Februar 1946